Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel страница 193

СКАЧАТЬ die von Iskuhi ausgingen, wie scharfe Strahlen auf ihrem Gesicht. Hier saß nicht nur irgendeine Feindin und starrte sie mit stillen Todesflüchen an. Hier saß die Feindin, die große Fremdheit selbst, das Unüberwindlich-Armenische, dem sie zum Opfer gefallen war. Und Juliette hatte immer geglaubt, sie sei das Harte, und das Asiatische das Weiche. Das Harte aber war vom Weichen aufgelöst worden. Während sie zu schlafen schien, überfielen sie schneidende Erkenntnisse. Wie war das? Nicht sie, Juliette, hatte den ersten Anspruch auf Gabriel. Iskuhi besaß den älteren Anspruch, und niemand konnte es ihr verwehren, wenn sie ihr Gut zurücknahm. Ein großes Mitleid mit sich selbst erschütterte Juliette. Hatte sie nicht für diese Asiatin alles getan, um ihre Liebe zu gewinnen, sie, die tausendmal höher stand? Hatte sie dieses ahnungslose Frauenzimmer nicht angezogen, sie mit ihren eigenen Dingen aufs beste geschmückt, sie gelehrt, wie man sein Gesicht und die Hände pflegt? (Ah, und wenn sie nackt ist, hat die Person trotz ihrer reizenden kleinen Brüste eine graubraune Haut, da hilft ihr kein Gott. Und der rechte Arm ist verkrüppelt. Kann das einem so heiklen Mann wie Gabriel gefallen?) Juliette staunte darüber, daß diese Urgegnerin ihr, seitdem sie sich überhaupt des Lebens entsinnen konnte, die Tasse oder den Löffel mit der Nahrung zum Munde geführt hatte, fürsorglich, trotz ihres Gebrechens. Sie hätte doch auch Gift in den Löffel tun können, ja sie hätte das müssen, es wäre ihre Pflicht gewesen. Juliette blinzelte zwischen den geschlossenen Lidern nach der Feindin hinüber. Und wirklich! Iskuhi war aufgestanden, hatte, wie sie das immer zu tun pflegte, die Thermosflasche unter ihre linke Achsel geklemmt und schraubte den Trinkbecher los. Dann stellte sie diesen auf das Spiegeltischchen, schenkte ihn vorsichtig voll und näherte sich damit der Kranken. Also doch! Es war kein leerer Verdacht gewesen. Die Mörderin kam mit dem Gift. Juliette preßte die Augen und Lippen zusammen. Es war ihr, als wage die Mörderin während der Tat mit ihrer gläsernen Stimme noch leise zu singen oder mindestens zu summen. Wie das Surren von Moskitos klang das, die sich auf Juliettens Gesicht niederließen. Sie lauschte mit angespanntem Gehör. Iskuhi neigte sich über sie:

      »Du hast schon seit fünf Stunden nichts getrunken, Juliette. Der Tee ist noch schön warm.«

      Die Kranke schlug lauernde Augen auf. Iskuhi merkte nichts. Sie hatte den Becher wieder hingestellt und noch ein Kissen zur Stützung unter Juliettens Kopf geschoben. Dann erst hielt sie ihr den Trank an die Lippen. Juliette wartete, damit die Erzfeindin nicht Verdacht fasse, und tat so, als wollte sie wirklich trinken. Plötzlich schlug sie mit wohlberechneter Tücke Iskuhi den Becher aus der Hand. Der Tee ergoß sich über die Decken. Juliette aber hatte sich aufgesetzt und keuchte:

      »Geh! Geh du! Geh doch ...«

      Viel Schlimmeres noch mußte sie erleiden, als gegen Abend Gabriel an ihr Bett kam. Jetzt galt es, eilig zu fliehn, rasch wieder ins Labyrinth zurückzutauchen. Die dunkeln Gänge waren aber auf einmal verschüttet, und das Zwischenreich bestand nur aus einem lächerlich engen Raum. Gabriel nahm forschend ihre Hand wie immer. Ein klar bewußtes Herzklopfen: Wird er reden? Werde ich heute schon alles erfahren und wissen müssen? Darf ich mich nicht mehr verstecken? Sie versuchte lang und gleichmäßig zu atmen. Doch zugleich spürte sie, daß in dieser Stunde ihr Schlafwandel nicht mehr ganz rein und gerecht war, sondern durch Willen getrübt. Auch Gabriel redete kein Wort zu ihr. Nach einer Weile zündete er die Kerzen auf dem kleinen Spiegeltisch an – Petroleum brannte man nicht mehr – und ging. Juliette atmete auf. Doch nach zwei Minuten kehrte Bagradian noch einmal kurz zurück, um Stephans große Photographie auf Juliettens Bett zu legen, jenes vorjährige Bild, das sonst immer auf seinem Schreibtisch gestanden hatte, in Paris und auch in Yoghonoluk.

      Das ist ja gar nicht Stephans Bild, sagte sich Juliette, das ist irgend etwas andres, ein Brief vielleicht und ich soll ihn lesen, wenn ich wieder gesund bin. Jetzt aber darf ich mich nicht länger dem Leben aussetzen. Das tut mir schlecht. Ich habe ja wirklich noch das Recht, zu verschwinden. Sie verkroch sich und zog mit ihren eiskalten Händen die Decke bis an den Mund. Dabei fiel der Karton zur Erde, mit dem Bilde nach oben. Die Photographie sah deutlich zu Juliette empor, deren Kopf sich aus dem Bett neigte. Das vom Spiegel verstärkte Kerzenlicht glänzte mitten auf der Bildfläche. Nun war es geschehen. Nun gab es kein Zurück mehr für sie. Doch Stephans Besuch erfolgte nicht aus der Photographie heraus. Die Wesenheit des Jungen stand hinter dem Kopfende des Bettes. Es war, als käme er atemlos von der Knabenkohorte der Haik-Bande, vom Ordonnanzdienst oder irgendeinem Spiel hergelaufen, um schnell und sehr widerwillig seine Milch hinunterzustürzen:

      »Du suchst mich, Mama?«

      »Heute noch nicht, Stephan«, flehte Juliette, »komm heute noch nicht! Ich bin zu schwach. Komm erst morgen! Laß mich noch heute krank sein! Geh lieber zu Papa ...«

      »Bei Papa bin ich immer ...«

      »Ich weiß ja, daß du mich nicht liebhast, Stephan ...«

      »Und du, Mama ...?«

      »Wenn du ein guter Junge bist, habe ich dich lieb. Du mußt wieder deinen blauen Anzug tragen. Denn sonst bist du ein Armenier ...«

      Mit diesen Worten war Stephan höchst unzufrieden. Er schien durchaus keine Lust zu haben, zu seiner alten Tracht zurückzukehren. Sein Schweigen bewies, daß er trotzte. Juliette aber flehte immer stürmischer: »Nur heute nicht, Stephan! Komm morgen früh! Laß mich noch diese Nacht ...«

      »Morgen früh ...?«

      Das war kein Versprechen, sondern eine leere Frage, ungeduldig, zerstreut, auf dem Sprung, den Kopf schon wieder den Kameraden zugewandt. – Als Juliette aber ihr Flehen bereits erfüllt fühlte, da fuhr sie aus dem Bett. Die Stimme schoß heiser in ihre Kehle zurück: »Stephan ... hierbleiben ... nicht fortlaufen ... hierbleiben ... Stephan ...«

      Mairik Antaram war auf dem Wege zum Dreizeltplatz, um für die Nachtruhe der Kranken zu sorgen. Schuschik hatte sich ihr angeschlossen. Denn seitdem sie wußte, daß Haik lebte, war sie von einem scheuen Drang nach Gemeinschaft und Hilfeleistung beseelt. Wer aber konnte ihr da einen besseren Weg weisen als Antaram, die Helferin? Die Frauen fanden die Hanum auf dem Wege zusammengebrochen, zweihundert Schritt etwa vom Zelt entfernt. Sie kauerte im bloßen Hemd neben einem Strauch, die abgezehrten Beine ans Kinn gezogen. Auf ihrer Stirn perlte noch immer der Todesschweiß, doch ihre offenen Augen waren wieder fern und stumpf.

      Axtschläge hämmerten fern von den Nordhöhen des Musa Dagh zum Sattel herüber. Die Türken fällten die Steineichen des Berges. Bauten sie Geschützstände? Oder errichteten sie ein befestigtes Lager, um für den neuen Angriff einen Rückzugspunkt zu besitzen und nicht wie bisher die Höhen in der Nacht verlassen zu müssen oder einem Überfall ausgesetzt zu sein? Man entsandte Kundschafter, um den Bergrücken jenseits des Nordsattels auszuforschen, vier der bewährtesten Jungen aus der Spähergruppe. Sie kehrten nicht mehr zurück. Die weite Hochfläche, die noch vor einigen Tagen bis nach Sanderan auf der einen und zum Ras el Chansir auf der andern Seite einen freien Ausweg geboten hatte, war nun tödlich versperrt. Tiefste Bestürzung! Man schickte Sato, die Meisterspionin, aus. Um die war's nicht schade. Sie kehrte auch zurück. Doch man konnte von ihr nichts Brauchbares erfahren. »Viele tausend Soldaten!« Satos Zahlenbegriffe waren höchst unzuverlässig und beschränkten sich nur auf die kleinsten und größten Bezeichnungen. Über die Tätigkeit dieser »vielen tausend« gab sie nur unklare Nachricht: »Sie rollen Holz« oder »sie kochen«. Die Aufgabe schien sie nicht besonders interessiert zu haben. Hingegen hatte sie für ihre Person Beute gemacht: ein Fladenbrot, eine große knusprige Scheibe. Sie hielt es fest an ihren Vogelleib gedrückt, der noch immer in dem artigen Hängekleidchen steckte, das freilich in den wildesten Fetzen und Drapierungen ihre abstoßende Nacktheit umschlotterte. Das Brot war von Satos Rattenzähnen rings angefressen, nicht an zwei oder drei Stellen, sondern an zehn, in gar nicht menschlicher Art. Sie ließ Nurhan Elleon und die andern, die sie ausholten, alsbald stehen und verschwand unauffindbar. Niemand sollte von ihrem Schatz auch nur einen Bissen abbekommen, keiner von der Jugendkohorte und am allerwenigsten Iskuhi. Mit dieser erging es Sato ähnlich wie Lehrer Oskanian mit СКАЧАТЬ