Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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СКАЧАТЬ der ihm gar nicht weh tat, wandte er sich dem Licht zu. Kleine weiße Motten und große dunkle Nachtfalter tanzten um die Flamme. Krikor dachte: Wenn das so weitergeht, werde ich gesund werden. Aber dies war ihm gar nicht wichtig. Sein Geist begann dem Faltertanz nachzusinnen. Große und eingebildete Worte stiegen wie Blasen auf, ohne daß Krikor Macht über sie hatte. »Die Zentralsonne des Polyodorus.« Gab es das, oder gab es das nicht? Gleichviel! Um die Zentralsonne des Polyodorus tanzten die Schleierplejaden und die Spinnwebenneaden, Sternhaufen in Schmetterlingsform, deren feine Materie aus dem Aschenstaub verbrannter Welten gebildet ist, wie der arabische Astronom Ibn Saadi schon nachgewiesen hat. Was alles hätte aus ihm in Europa werden können. Der Esel Schatakhian! Krikor von Yoghonoluk war stolz wie ein Gott, da er die grauen Welten um die Zentralsonne tanzen sah. So stolz war er, daß er sich selbst verlor und einschlief. – Das Erwachen aber war schrecklich. Die Koje hatte sich unbegreiflich verengt. Krikor sah fast nichts mehr. Die Nachtfalter hatten sich vertausendfacht und deckten das Licht der schlechten Kerze fast völlig ab. Der Kranke bekam keinen Atem, brach in verzweifelte Gurgelrufe aus und krümmte sich hoch, der Schmerzen nicht achtend. Äußerlich gesehn war's ein Erstickungsanfall, doch innerlich etwas weit Grauenhafteres. Das Gefühl eines ungeheuren Nicht-Aushaltens, aber nicht etwa im zeitlich vorübergehenden Sinn, sondern ein Nicht-Aushalten, das sich in alle Ewigkeit verewigt. Wenn es eine Hölle gab, mußte dies ihre große Strafe sein. Und dies verewigte Nicht-Aushalten hatte einen ganz bestimmten Inhalt. Wissendes Nichtwissen oder nichtwissendes Wissen wäre eine matte Bezeichnung gewesen für dieses Meer von Halbheit, von angefangenen Erkenntnissen, schnell geschmolzenen Gedanken, unbegriffenen Lehren, festgefressenen Irrtümern. Nicht-fertig-Werden mit dem Kleinsten! Grausige Ohnmacht des Geistes, der an jedem Grashalm zerschellt! In diesem Meer voll ekelhafter Trümmer glaubte Krikor zu ertrinken. Er wollte sich retten, fliehen. Röchelnd kroch er vor, tastete sich hoch, klammerte sich an der Büchermauer fest. Als er in seiner Schwäche den Halt verlor und rücklings auf sein Lager fiel, riß er die obersten Schichten der Bücherwand mit sich und die verlöschende Kerze dazu. Polternd stürzten sich die Bücher auf Krikors Körper, als wollten sie ihren Herrn umarmen und festhalten. Der Kranke lag sehr lange so, wie er gefallen war, zufrieden, daß er wieder atmen konnte und daß der Erstickungsanfall des Nichtwissens ihn freigegeben hatte. Wie Wellen kamen die Schmerzen jetzt wieder. Jeder Finger brannte, als habe er ihn eben aus dem Feuer gezogen. Da leisteten dem Apotheker die Bücher noch einmal einen großen Dienst, die gelesenen, die ungelesenen, die durchblätterten, die geliebten. Er steckte seine brennenden Hände zwischen die Seiten. Das Innere der Bände war so kühl wie Wasser. Und mehr als das. Eine neue eisige Ruhe strömte aus dem Geistesblut der Bücher in das seine. Er erkannte jedes einzelne noch mit seinen tauben und blinden Fingern. Eine letzte leise Anwandlung: Schade um diese Freude. Dann ließ das Brennen nach, Zug um Zug. Der letzte Schmerz sah sich noch einmal um. Die sanfte Empfindungslosigkeit stieg immer höher. Durch die Balkenritzen zuckte ein bleiernes Grau. Krikor merkte es nicht, denn etwas sehr Großes geschah mit ihm. Es begann damit, daß ihn ein stilles Bewußtsein durchflutete, so, als poche jeder Schlag des versickernden Pulses: Ich bin die erste Person, ich bin die erste Person. Dann begann das, was Krikor von Yokhonoluk hieß, zu wachsen. Dies aber ist schon eine Fälschung. Worte, die nach Zeit und Raum gerichtet sind, drücken es nicht aus. Vielleicht wuchs nicht das, was Krikor von Yoghonoluk hieß, sondern das, was die Welt war, schrumpfte ein. Ja, die Welt zog sich mit rasender Schnelligkeit zusammen, die Baracke, die Stadtmulde, der Musa Dagh, die Heimat unten und was sie umgab. Anders konnte es gar nicht sein. Sie hatte keine Dichtigkeit, da sie aus der Asche verbrannter Sterne bestand. Zuletzt war nur mehr Krikor von Yoghonoluk allein da. Er war das All, nein, er war mehr als das All, denn die Nachtfalter der Welten tanzten um sein Haupt, ohne daß er es merkte.

      Fünftes Kapitel

       Die Altarflamme

       Inhaltsverzeichnis

      Ter Haigasun hatte nach einer langen Rücksprache mit Pastor Aram und Altouni die Verfügung getroffen, es solle mit den vorhandenen Resten nicht mehr gespart werden. War's nicht ganz und gar sinnlos, das Leben zu strecken und damit auch seine Qual? Schon gab es, ehe der wirkliche Hunger noch eingesetzt hatte, Entkräftete genug, Weiber, Kinder, alte Leute, die einfach hinfielen und nicht wieder aufstanden. Dieses langsame Aufgeriebenwerden entpuppte sich als die schlimmste Form des Untergangs. Der Priester war willens, den Prozeß abzukürzen. Besser, noch ein paar Tage lang sich satt zu essen und dann dem Nichts gegenüberzustehn, als dieses Nichts um den Preis ewig brennender Eingeweide für eine lächerliche Spanne hinauszuschieben. In den ersten Septembertagen wurden also die zwei mageren Kühe des Hauses Bagradian sowie alle Ziegen, Böcke und Geißen geschlachtet, ohne Rücksicht auf die Milch, die ihrer Menge und ihrem Gehalt nach nichts mehr bedeutete. Dann kamen die Pack- und Reitesel an die Reihe, deren ledernes Fleisch freilich weder am Bratspieß noch auch im Kochtopf garzubekommen war. Immerhin, das Großvieh ergab, bis auf Knochen und Blut verwertet, mit Schwanz, Haut, Huf und Kutteln, mächtige Nahrungsberge, welche die Mägen zugleich füllten und peinigten. Dazu kam noch der Zucker und Kaffee Rifaat Berekets, ungefähr ein viertel Pfund auf jeden Haushalt. Der Sud aber wurde immer wieder von neuem aufgekocht, so daß die Kaffeekannen, dem evangelischen Ölkrüglein gleich, nicht leer wurden. Von diesem Trank ging wenn auch nicht Heiterkeit und Zuversicht, so doch eine angenehme Ergebung in die Minute aus. Als beinahe ebenso wichtig erwies sich der Tabak. Ter Haigasun hatte es mit großer Weisheit gegen die widerstrebenden Muchtars durchgesetzt, daß der Löwenanteil, vier ganze Ballen, an die Männer der Südbastion verteilt werde, an Tunichtgute und unsichere Kantonisten also. Sie durften nun im Rauche schwelgen wie nicht einmal in ihren besten Lebenszeiten. Dieses Wohlbehagen sollte es verhindern, daß sie auf unnütze Gedanken kämen. Auch Sarkis Kilikian lag, vom Tabakgenuß völlig ausgefüllt, auf dem Rücken und schien gegen die Weltordnung derzeit nichts einzuwenden haben. Lehrer Hrand Oskanian freilich war Nichtraucher.

      Diesen leichtsinnigen, aber lebensfördernden Maßnahmen standen zwei andre bedachtsame und nächtige gegenüber. Ter Haigasun hatte sie in einem langen Zwiegespräch dem Arzte abgerungen. Altounis Gesicht, runzlig wie ein welkes Blatt, wurde immer trockener und brauner. Ein Husten erschütterte seinen dürren Brustkasten, das tiefere Unbehagen verschleiernd. Sowenig Bedros Hekim auch vom Leben hielt, er hatte mit letzter Kraft für seine Erhaltung hier oben gekämpft. Jetzt aber mußte er einsehen, daß Ter Haigasun im Recht war. Die Umstände vertauschten die Rollen der beiden Männer. In dieser Sache entschied der Priester gottloser als der Arzt.

      Am vierunddreißigsten Exilstag, vierundzwanzig Stunden nach Krikors Tod, befanden sich auf dem Infektionsplatz etwa zweihundert Kranke, im und um den alten Lazarettschuppen aber mehr als hundert, außer den Schwerverwundeten jene Entkräfteten zumeist, die während der Arbeit oder auf dem Wege zusammengebrochen waren. Angesichts eines Volkes von fünftausend Seelen konnte dieser Krankenstand, zu dem ja auch die Verwundeten gehörten, noch immer nicht beängstigend erscheinen. An diesem Tage aber schoß, unvermittelt und unbegründet, die Kurve der Sterblichkeit wild in die Höhe. Bis zum Abend erloschen dreiundvierzig Menschenleben, und es war zu erwarten, daß ihnen im Laufe der nächsten Stunden noch manche folgen würden. Der Friedhof genügte längst nicht mehr, um so vielen neuen Gästen Herberge zu geben. Der Rand der verhältnismäßig tieferen Erdschicht war schon überschritten. Jetzt stieß der Spaten bereits unter vier Fuß auf den Kalkknochen des Damlajik. Man hätte sich demnach im Umkreis der Möglichkeiten auf die Suche nach einem günstigeren Boden für die ewige Ruhestatt begeben müssen. Dieser aber wäre kaum zu finden gewesen. Auch war's angezeigt, mit der verbrauchten Arbeitskraft höchst vorsichtig umzugehen und sie nicht an den Tod zu verschwenden. Da sich überdies in den Butten kein Körnchen der alten Heimaterde mehr fand, die Ter Haigasun den Abgeschiedenen hätte mitgeben können, blieben diese ganz und gar auf Gottes Allwissenheit angewiesen, daß Er beim letzten Gericht erkenne, wohin sie gehörten. Es blieb demnach gleichgültig, wie und wo sich die Toten nach den Tagen des Musa Dagh ausschliefen. Ihr Schlaf würde ja nach all dem Erlebten tief und fest sein.

      Ter Haigasun führte daher eine neue Begräbnisart ein, ohne sie dem Volke des langen und breiten vorher zu verlautbaren. In СКАЧАТЬ