Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
isbn:
Fünftes Kapitel
Die Altarflamme
Ter Haigasun hatte nach einer langen Rücksprache mit Pastor Aram und Altouni die Verfügung getroffen, es solle mit den vorhandenen Resten nicht mehr gespart werden. War's nicht ganz und gar sinnlos, das Leben zu strecken und damit auch seine Qual? Schon gab es, ehe der wirkliche Hunger noch eingesetzt hatte, Entkräftete genug, Weiber, Kinder, alte Leute, die einfach hinfielen und nicht wieder aufstanden. Dieses langsame Aufgeriebenwerden entpuppte sich als die schlimmste Form des Untergangs. Der Priester war willens, den Prozeß abzukürzen. Besser, noch ein paar Tage lang sich satt zu essen und dann dem Nichts gegenüberzustehn, als dieses Nichts um den Preis ewig brennender Eingeweide für eine lächerliche Spanne hinauszuschieben. In den ersten Septembertagen wurden also die zwei mageren Kühe des Hauses Bagradian sowie alle Ziegen, Böcke und Geißen geschlachtet, ohne Rücksicht auf die Milch, die ihrer Menge und ihrem Gehalt nach nichts mehr bedeutete. Dann kamen die Pack- und Reitesel an die Reihe, deren ledernes Fleisch freilich weder am Bratspieß noch auch im Kochtopf garzubekommen war. Immerhin, das Großvieh ergab, bis auf Knochen und Blut verwertet, mit Schwanz, Haut, Huf und Kutteln, mächtige Nahrungsberge, welche die Mägen zugleich füllten und peinigten. Dazu kam noch der Zucker und Kaffee Rifaat Berekets, ungefähr ein viertel Pfund auf jeden Haushalt. Der Sud aber wurde immer wieder von neuem aufgekocht, so daß die Kaffeekannen, dem evangelischen Ölkrüglein gleich, nicht leer wurden. Von diesem Trank ging wenn auch nicht Heiterkeit und Zuversicht, so doch eine angenehme Ergebung in die Minute aus. Als beinahe ebenso wichtig erwies sich der Tabak. Ter Haigasun hatte es mit großer Weisheit gegen die widerstrebenden Muchtars durchgesetzt, daß der Löwenanteil, vier ganze Ballen, an die Männer der Südbastion verteilt werde, an Tunichtgute und unsichere Kantonisten also. Sie durften nun im Rauche schwelgen wie nicht einmal in ihren besten Lebenszeiten. Dieses Wohlbehagen sollte es verhindern, daß sie auf unnütze Gedanken kämen. Auch Sarkis Kilikian lag, vom Tabakgenuß völlig ausgefüllt, auf dem Rücken und schien gegen die Weltordnung derzeit nichts einzuwenden haben. Lehrer Hrand Oskanian freilich war Nichtraucher.
Diesen leichtsinnigen, aber lebensfördernden Maßnahmen standen zwei andre bedachtsame und nächtige gegenüber. Ter Haigasun hatte sie in einem langen Zwiegespräch dem Arzte abgerungen. Altounis Gesicht, runzlig wie ein welkes Blatt, wurde immer trockener und brauner. Ein Husten erschütterte seinen dürren Brustkasten, das tiefere Unbehagen verschleiernd. Sowenig Bedros Hekim auch vom Leben hielt, er hatte mit letzter Kraft für seine Erhaltung hier oben gekämpft. Jetzt aber mußte er einsehen, daß Ter Haigasun im Recht war. Die Umstände vertauschten die Rollen der beiden Männer. In dieser Sache entschied der Priester gottloser als der Arzt.
Am vierunddreißigsten Exilstag, vierundzwanzig Stunden nach Krikors Tod, befanden sich auf dem Infektionsplatz etwa zweihundert Kranke, im und um den alten Lazarettschuppen aber mehr als hundert, außer den Schwerverwundeten jene Entkräfteten zumeist, die während der Arbeit oder auf dem Wege zusammengebrochen waren. Angesichts eines Volkes von fünftausend Seelen konnte dieser Krankenstand, zu dem ja auch die Verwundeten gehörten, noch immer nicht beängstigend erscheinen. An diesem Tage aber schoß, unvermittelt und unbegründet, die Kurve der Sterblichkeit wild in die Höhe. Bis zum Abend erloschen dreiundvierzig Menschenleben, und es war zu erwarten, daß ihnen im Laufe der nächsten Stunden noch manche folgen würden. Der Friedhof genügte längst nicht mehr, um so vielen neuen Gästen Herberge zu geben. Der Rand der verhältnismäßig tieferen Erdschicht war schon überschritten. Jetzt stieß der Spaten bereits unter vier Fuß auf den Kalkknochen des Damlajik. Man hätte sich demnach im Umkreis der Möglichkeiten auf die Suche nach einem günstigeren Boden für die ewige Ruhestatt begeben müssen. Dieser aber wäre kaum zu finden gewesen. Auch war's angezeigt, mit der verbrauchten Arbeitskraft höchst vorsichtig umzugehen und sie nicht an den Tod zu verschwenden. Da sich überdies in den Butten kein Körnchen der alten Heimaterde mehr fand, die Ter Haigasun den Abgeschiedenen hätte mitgeben können, blieben diese ganz und gar auf Gottes Allwissenheit angewiesen, daß Er beim letzten Gericht erkenne, wohin sie gehörten. Es blieb demnach gleichgültig, wie und wo sich die Toten nach den Tagen des Musa Dagh ausschliefen. Ihr Schlaf würde ja nach all dem Erlebten tief und fest sein.
Ter Haigasun führte daher eine neue Begräbnisart ein, ohne sie dem Volke des langen und breiten vorher zu verlautbaren. In СКАЧАТЬ