Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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СКАЧАТЬ hatte sich das erstemal aufzusetzen versucht und einen Kamm verlangt. Als die Kranke Gabriel erkannte, erschraken ihre Augen. Sie suchte ihn mit ihren erhobenen Händen und wehrte ihn zugleich ab. Die Stimme aber in der geschwollenen Kehle gehorchte ihr noch immer nicht:

      »Wir haben doch miteinander gelebt ... du ... sehr lange ...«

      Er strich ihr prüfend über den Kopf. Sie sprach ganz leise, als wollte sie die Wahrheit nicht wecken:

      »Und Stephan ... Wo ist Stephan ...«

      »Sei ruhig, Juliette ...«

      »Werde ich ihn nicht bald sehn dürfen ...?«

      »Ich hoffe, daß du ihn bald wirst sehn dürfen.«

      »Und warum ... darf ich ihn nicht jetzt schon sehn ... Nur durch den Vorhang ...«

      »Jetzt kannst du ihn nicht sehn, Juliette ... Es ist noch zu früh.«

      »Zu früh ... Und wann werden wir wieder beisammen sein, alle ... und weg von hier ...«

      »Vielleicht schon in den nächsten Tagen ... Du mußt noch ein bißchen warten, Juliette.«

      Sie glitt zurück und drehte sich zur Seite. Eine Sekunde lang sah es so aus, als wüchse ein Weinkrampf in ihr. Zweimal überlief ein langes Zucken ihren Körper. Dann aber kehrte in Juliettens Augen wieder der leere und zufriedene Ausdruck zurück, mit dem sie heute zum Leben erwacht war.

      Draußen vor dem Zelte hatte es den Anschein, daß Gabriel, von der scharfen Sonne geblendet, unsicher gehe. Iskuhi stützte ihn mit ihrer gesunden Hand. Er aber stolperte über irgendeine Unebenheit und riß sie im Sturze mit. Stumm blieb er liegen, als lohne es in dieser Welt nicht mehr, sich zu erheben. Doch auch Iskuhi sprang erst auf, als sie Schritte hörte, die sich rasch näherten. Sie erschrak zu Tode. War es der Bruder, der Vater? Gabriel wußte nichts von ihren Kämpfen, die sie ihm verschwiegen hatte. Stündlich erwartete sie einen Überfall durch die Ihren, obgleich sie Bedros Hekim zum Vater geschickt hatte, damit er ihm sage, daß Mairik Antaram ihre Hilfe brauche. Iskuhis Schreck war unbegründet. Nicht die Tomasians kamen, sondern zwei atemlose Boten aus der Nordstellung. Der helle Schweiß lief ihnen über die Wangen, denn sie hatten die lange Strecke in scharfem Trab zurückgelegt. In der größten Erregung keuchten die beiden durcheinander:

      »Gabriel Bagradian ... Türken ... Türken sind da ... Sechs oder sieben ... Sie haben eine weiße und grüne Fahne bei sich ... Parlamentäre ... Keine Soldaten ... Ein Alter ist der Führer ... Sie rufen herüber, daß sie nur mit Bagradian Effendi und sonst mit niemandem sprechen wollen ...«

      Mehr als eine Woche war seit der großen Niederlage der Türken schon verflossen. Der verwundete Jüsbaschi war, den Arm in der Binde, wieder unter den Soldaten zu sehn. Im Umkreis des Musa Dagh lagen soviel reguläre Truppen und Saptiehs wie noch nie. Und doch, es geschah nichts. Auch sprach nicht das leiseste Anzeichen dafür, daß in der nächsten Zeit etwas geschehen werde. Die Männer auf dem Damlajik sahen das lässige Treiben unten im Tal und fanden keine Erklärung dafür, daß man sie trotz der drohend angewachsenen Truppenmacht so auffällig in Ruhe ließ. Den Grund konnten sie auch nicht wissen. Der Kaimakam von Antakje, oberster Leiter der »Liquidation«, war verreist.

      Dschemal Pascha hatte nämlich sämtliche Walis, Mutessarifs und Kaimakams der syrischen Vilajets in seinem Hauptquartier zu Jerusalem um sich versammelt. Es waren unerwartete Naturereignisse aufgetreten, die rasche Maßregeln erforderten, sollte nicht die Kriegführung, ja das ganze Leben Syriens, der wichtigsten Etappe, völlig gelähmt werden. Die Mittelmeerprovinzen des ottomanischen Reiches befanden sich in der schwersten Bedrängnis. Nur selten geschieht es, daß sich die göttliche Gerechtigkeit, die eine unverwickelte Prozeßordnung nicht liebt, geschwind ertappen läßt. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten menschlicher Justiz folgt hier die Strafe der Schuld durchaus nicht auf dem Fuße. Die göttliche Gerechtigkeit ist in der kosmischen Folgerichtigkeit aufgelöst wie das Salz im Meere. In dieser Jahreszeit und in diesen Breiten aber schien sie sich mit einer bemerkenswerten Hast offenbaren zu wollen, als sei selbst ihre ewig unparteiische Ruhe angesichts der Vorgänge aus der richterlichen Objektivität geraten. Kurz, die Mühlen Gottes mahlten diesmal schnell.

      Zwei ägyptische Plagen, von allerlei Neben- und Unterplagen begleitet, drangen vom Norden und Osten her ins Land. Die östliche Plage, der Flecktyphus, der über Aleppo hinaus als geschlossene Seuche nach Antiochia, Alexandrette und in die Küstengebiete vorstieß, war ein schauerliches Beweisstück jener kosmischen Folgerichtigkeit. Die Krankheit unterschied sich in ihrer grausamen Schärfe von der sanfteren Epidemie auf dem Damlajik, die sich dank der frischen Luft, dem guten Wasser, der strengen Trennung und wegen andrer unbekannter Umstände noch in mäßigen Grenzen hielt. Die Sterblichkeitsziffer des mesopotamischen Fleckfiebers jedoch belief sich oft auf achtzig vom Hundert. Aufgebrochen war er aus der Pestwolke, die über den Steppen des Euphrat lag. Auf dieser höchst ungeweihten Erde, in dieser gottlosen Senkgrube des Todes, verwesten schon seit Mai und Juni Hunderttausende von Armenierleichen. Selbst die Tiere flohen vor dem Gestank. Nur die armen Soldaten mußten durch diese unaussprechliche Jauche der Menschheit hindurch: Kolonnen mazedonischer, anatolischer, arabischer Infanterie mit den endlosen Wagen- und Kamelreihen des Trains wurden in tagelangen Märschen hindurch und nach Bagdad getrieben. Dazwischen stampften die Hufe der Beduinenkavallerie. Doch auch diese Kinder der Wildnis konnten während des Durchzuges – sie holten das Letzte aus ihren Pferden – keine Speise bei sich behalten. Die toten Armenier aber sandten vom »Deportationsziel des Nichts« her ihren danksagenden Hauch westwärts über die wenigen Schuldigen und die vielen Unschuldigen. Talaat Bey hätte sich im Serail-Palais des Ministeriums wohl seinen weltklugen Kopf darüber zerbrechen können, wie merkwürdig es ausfällt, wenn man ein Volk ins Nichts schickt. Doch weder er noch Enver zerbrachen sich den Kopf, denn seitdem die Welt steht, ist die Gewalt stets mit stumpfer Unverfrorenheit der Seele verschwistert.

      Die zweite nördliche Plage war zwar weniger folgerichtig als die erste, doch in ihrer Auswirkung vielleicht noch gefährlicher. Auch schien sie tatsächlich die Wiederholung einer biblischen Strafe zu sein. Der Einbruch der Heuschrecken in die Ebene von Aleppo und damit in ganz Syrien geschah vom Taurus herab. Die Hänge, Schluchten und Schächte dieses riesigen Gebirges waren wohl die Geburtsstätte des zähen Nomadenvolkes, das sich unaufhaltsam über das Land ergoß. Große Heuschrecken, hart, ausgetrocknet, welklaubähnlich, hunnenhafte Insekten, als sei in ihren weiten Hindernissprüngen Roß und Reiter zusammengewachsen. Sie kamen in verschiedenen riesenhaften Heerhaufen, mit denen sie Hunderte von Quadratmeilen der Sandschaks bedeckten, so daß kaum ein Erdfleck durchzublicken vermochte. Die Marschordnung und konzentrische Richtung ihres Einbruchs ließen vermuten, daß hinter ihrem Wüten nicht nur der blinde Trieb stand, sondern Auftrag, Plan und Führung, die kollektive Idee alles Heuschreckentums gewissermaßen. Ein unheimlicher Anblick war's, wenn sich einer dieser Schwärme auf die alten Bäume eines Gartens niederließ, auf Ulmen, Platanen, Eiben, ja selbst auf hartblättrige Sykomoren. Dann dauerte es nur wenige Sekunden, und der Baum war wie in einen Möbelüberzug eingehüllt, wie in einen Wettermantel aus dunklem Loden. Alles Grüne schrumpfte vor den Augen des Beschauers augenblicklich zusammen, wie von unsichtbaren Flammen verzehrt. Sogar der Stamm steckte in hohen wurrlenden Gamaschen. Nichts ließ darauf schließen, daß die Einheit eines solchen Schwarmes aus Individuen bestand. Griff jemand einen Heuschreck aus der Masse heraus, so konnte er die erstaunlichen Fortbewegungs- und Freßwerkzeuge bewundern, in denen alles Leben dieser Erdenbürger vereinigt war. Sonst aber benahm sich der einzelne in der Hand eines Menschen ebenso feig und erbärmlich wie andre Insekten und suchte zu fliehen. Im Schwarm jedoch schien er sich zu fühlen und seine gierige Tätigkeit als den Dienst an einer großen Sache aufzufassen.

      Im August gab es östlich der syrischen Küstengebiete bis ins Euphrattal hinein keinen grünen Baum mehr. Das Schicksal der Bäume jedoch bereitete Dschemal Pascha wenig Beschwer. Die Ernte im nördlichen Syrien beginnt nie vor Mitte Juli und dauert mehrere СКАЧАТЬ