Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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СКАЧАТЬ zu verbreiten? Mit jedem Tage des wirklichen Hungers mußte die Selbstauflösung unaufhaltsam fortschreiten. Die Türken hatten einen neuen Angriff gar nicht nötig, um das Ende herbeizuführen. Nun erübrigte sich auch die bange Frage: Wie lange noch? Die Finger einer Hand genügten, um die Antwort auszuzählen. Hilfe konnte nur durch ein Wunder Gottes kommen. Wie auf der vierzigjährigen Wüstenwanderung der Kinder Israels. Aber mit Manna und Wachtelschwärmen war der Himmel selbst dem auserwählten Volke gegenüber nicht verschwenderisch gewesen.

      Noch an demselben Tage jedoch trat ein überraschendes Ereignis ein, das in dem quälenden Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung den Mut wieder ein wenig belebte. Man hätte dieses Ereignis nicht ganz unzutreffend ein Wunder nennen können, wenn auch ein mißglücktes.

      Sogleich nach dem Tode Stephans hatte der Arzt seine Frau von all ihren sonstigen Pflichten befreit und in das Krankenzelt geschickt, damit sie nun Juliettens Pflege voll übernehme. Bedros Hekim brachte damit ein sehr großes Opfer, da die unverwüstliche Antaram den gesamten Dienst im Lazarettschuppen und auch im Epidemiewald leitete. Zu diesem Opfer hatte sich der Gute um Iskuhis willen entschlossen. Durch die lange Pflege und nicht nur durch sie war das Mädchen zum Schatten eines Schattens geworden. Es erschien fast unglaublich, daß ein Wesen mit so wenig Leib sich noch immer so eifrig bewegen und immer noch arbeiten konnte. Welche Widerstandskräfte mußte Iskuhi besitzen, daß sie der Ansteckung trotz allstündlich engster Nähe nicht verfallen war, bisher wenigstens? Ein andrer Grund für Mairik Antarams Entsendung war moralischer Natur. Die verfängliche Dreiheit sollte in eine unverfängliche Vierheit verwandelt werden. Die neue Pflegerin wohnte nun im Krankenzelt, während Iskuhi in Howsannahs verlassenes Zelt übersiedelte.

      Juliette gehörte zu jenem Teil der Kranken, deren Herz die Epidemie überstand. Als Gabriel die Gewißheit gewann, daß der Zustand seiner Frau sich zögernd dem Leben zuwende, da erfaßte ihn tiefes Erbarmen mit ihr. Wäre sie in ihren Fieberträumen, die Frankreichs Siegesglocken durchdröhnten, dahingegangen, wäre ihr das Erwachen erspart geblieben, wie glücklich hätte er sie gepriesen. Im übrigen war es um Juliettens Erwachen eigen bestellt. Nach den kritischen Stunden war eine neue Ohnmacht oder besser eine völlig lethargische Lebensschwäche eingetreten. Während des hohen Fiebers hatte Juliette immer Nahrung zu sich genommen, jetzt aber wehrte sie sich, das heißt, ihr steifer lebloser Körper leistete jeglicher Fütterung Widerstand. Die energische und kräftige Antaram aber gab nicht nach und zwang geduldig die Elende, alles hinunterzuschlucken, was sie ihr aus Milch und den noch vorhandenen Proviantresten zubereitete. Auch versuchte sie auf alle Arten, durch kalte Wickel und Massage, die Kranke »aufzuwecken«. Es gelang nur langsam. Erst dieser Tag mußte kommen, ehe Juliette stille Augen aufschlug, die nun wieder in die wirkliche Welt zu schauen schienen. Ihr Mund aber schwieg. Sie fragte nichts, sie verlangte nichts. Wahrscheinlich sehnte sie sich in die violette Tiefseewelt der vollen Bewußtlosigkeit zurück, die sie nur ungern verlassen hatte. Mairik Antaram wollte sie durch allerlei Gerede kitzeln und zurück ins Leben reizen. Entweder aber hatte Juliettens Geist wirklich gelitten oder setzte sie diesen Bemühungen einen mimosenhaften Stumpfsinn entgegen, der sich jedem Berührtwerden ängstlich entzog. Auch als Gabriel zu ihr trat, veränderten sich ihre Züge nicht, obgleich sie das erstemal ein klares Wachen verrieten. Doch was war mit diesem schönen Gesicht geschehen, nachdem die lebhafte Schminke des Fiebers sich verzogen hatte? Die trockenen Haare hingen herab, farblos wie Asche. Man konnte nicht erkennen, ob sie nur ausgebleicht oder ergraut waren. Die Schläfen bildeten zu seiten der vorgekrümmten Stirn zwei tiefe Mulden. Die Backenknochen liniierten einen armen Totenschädel, aus dem nur die plumpe Nase mit rotentzündeter Haut häßlich hervorsprang. Gabriel hielt eine winzige Hand in der seinen, deren Skelett nicht aus Knochen, sondern aus biegsamem Fischbein zu bestehen schien. Und das sollte Juliettens Hand sein, die große, warme, feste? Er wurde diesem fremden, diesem neuentstandenen Menschen gegenüber sehr verlegen:

      »Nun hast du es überstanden, chérie, noch ein paar Tage und alles ist in Ordnung ...«

      Worte, vor denen ihm graute. Sie sah ihn an und antwortete nicht. Er konnte in dieser mageren häßlichen Kranken nichts von Juliette wiedererkennen. Alles Vergangene war mit furchtbarer Gründlichkeit aus dem Leben getilgt. Er versuchte aufmunternd zu lächeln:

      »Es ist sehr schwierig, aber hoffentlich werden wir dich genügend ernähren können ...«

      In ihren Augen stand noch immer das klare und wache Nichts. Hinter diesem Nichts versteckte sich aber dennoch die Angst, seine Worte könnten die gute Kruste durchstoßen, die sie vor dem Einbruch der Welt noch schützte. Juliette schien kein Wort gehört zu haben. Da ging er hinaus.

      Gabriel Bagradian verbrachte nun die meiste Zeit im Scheichzelt. Er vernachlässigte seine Befehlshaberpflichten, weil er keinen Menschenanblick ertrug. Nur Awakian überbrachte ihm dreimal täglich eine Situationsmeldung, die ohne das Zeichen des geringsten Interesses schweigend entgegengenommen wurde. Gabriel trat jetzt fast niemals vor das Zelt. Nur im geschlossenen Raum, in der Finsternis oder wenigstens im Halbdunkel ertrug er das Leben. Halbe Tage lang ging er auf und ab oder lag auf Stephans Bett, ohne daß ihm auch nur eine Stunde Schlaf geschenkt wurde. Solange der Leichnam des Knaben noch auf der Erde weilte, hatte Gabriel mit höllischer Vergeblichkeit sich sein Bild in den Geist zu rufen versucht. Nun, da Stephan schon einen Tag und eine Nacht unter der dünnen Erdschicht des Damlajik lag, nun kam er ungerufen zu jeder Stunde. Der Vater empfing ihn, regungslos auf dem Rücken liegend. Stephan war in dieser Phase seines Todes durchaus nicht verklärt, sondern brachte jedesmal seinen blutigen Körper mit. Er dachte nicht daran, Papa zu trösten oder gar ihm zu verraten, daß er in seiner Umarmung gestorben sei, ohne viel zu leiden. Nein, er wies ihm jegliche von seinen vierzig Wunden, die breiten Bajonett- und Messerstiche im Rücken, den Kolbenhieb, der sein Genick zerschmettert hatte, und das Gräßlichste, die klaffend durchschnittene Kehle. Der Tote ließ nichts nach, als wolle er vorerst abrechnen, ehe er seinen schmählich mißhandelten Knabenleib zu vergessen gedenke, diesen wohlgeborenen Leib, der nicht dazu bestimmt gewesen, das väterliche Blut auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk zu vergießen, sondern es weiterzugeben von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gabriel mußte jede dieser vierzig Wunden bis zum Grund ausfühlen. Vergaß er eine, so haßte er sich selbst. Er weckte in sich mit höchster Deutlichkeit das Gefühl des ins Fleisch eindringenden Stahls, wie er brennend die Haut durchschneidet, die Nerven, die Muskeln und furchtbar an den Knochen stößt. Er vergegenwärtigte sich in seinem eigenen Nacken den schmalen Knabennacken, den der Kolben des Mausergewehres zermalmt. Immer wieder begann er mit diesen quälerischen Übungen von neuem, und sie waren in ihrer Bestimmtheit noch eine Wohltat gegenüber den nebligen Überfällen des Schuldbewußtseins. Nun war er in seinem Schmerz zu Hause wie ein Blinder in seiner Wohnung, der jeden Winkel und jede Kante unfehlbar ertastet. In diesen Stunden, da Stephan bei ihm zu Besuch war, duldete er auch Iskuhi nicht. Blieb aber der Tote aus, liebte er es, wenn sie bei ihm saß und ihre Hand auf sein nacktes Herz legte. Dann konnte er sogar ein paar Minuten lang schlafen. Er hielt die Augen geschlossen. Iskuhi aber spürte, wie das dumpfe Pochen unter ihrer Hand scheu wurde. Seine Stimme kam von fernher:

      »Iskuhi, womit hast du das verdient? Es gibt so viele, die gerettet sind, die in Paris leben oder woanders ...«

      Sie näherte ihren Kopf der Hand, die auf seiner Brust lag:

      »Ich? Ich habe doch alles Gute und du hast alles Böse. Ich bin glücklich und hasse mich, weil ich jetzt glücklich bin ...«

      Er sah sie an, ihr weißes Gesicht mit den großen Augenschatten, das nur mehr der Hauch eines Gesichtes war. Ihre Lippen aber erschienen ihm überaus rot. Er schloß die Augen von neuem, weil alles wieder mit Stephans Gesicht zu verschwimmen drohte. Iskuhi aber zog langsam die Hand von seiner Brust fort:

      »Was wird geschehen? ... Wirst du es ihr sagen? ... Und wann? ...«

      Er schien zuerst die schwere Frage nicht beantworten zu wollen. Dann aber richtete er sich plötzlich auf:

      »Das hängt von der Kraft ab, die ich haben werde.«

      Gabriel СКАЧАТЬ