Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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Eine Meile etwa vor dem Dorfe Ain Jerab drängten sich die Ruinen des alten Antiochia zu einer ganzen Stadt zusammen. Alles überragen die Pilaster und gebrochenen Riesenbogen der römischen Wasserleitung. Die bisher recht bequeme Straße verengt sich hier zu einem ungenauen Saumpfad, der entlang des tief in die Felsen geschnittenen Flußbettes mitten durch die Steinwildnis des einstigen Menschenwerkes führt. Stellenweise bedecken Quadern, Säulenfragmente, abgebrochene Kapitale den Weg, so daß er kaum gangbar ist. Stephan strauchelte jeden Augenblick in seiner Fiebertrunkenheit zwischen den gefährlichen Trümmern, verwickelte sich in Schlingwuchs, stürzte, schlug sich die Knie wund, stand auf und taumelte weiter. Rechter Hand, tief im Ruinenfeld verborgen, zuckte manchmal der schwache Schein eines Feuers auf. Wäre Haik bei Stephan gewesen, er hätte auch ohne diesen Feuerschein die Nähe der elenden und doch verwandten Wesen auf Meilen vorausgespürt. Überbewußt würde sein Fuß den richtigen Weg gewählt haben. Doch wo mochte Haik zu dieser Stunde sein? Dreißig Schritt abseits von der Straße wartete Stephans Rettung, die sogar noch durch ein mahnendes Feuer kenntlich gemacht war. Nunik, Wartuk, Manuschak hätten Stephan gut versteckt, einen Tag und eine Nacht lang gepflegt, dann aber auf den sicheren Wegen ihrer Erfahrung auf den Damlajik gebracht, um den großen Lohn einzuheimsen. Der Stadtjunge aber fürchtete sich vor dem Feuer. Gehetzt keuchte er den ansteigenden Weg empor. Auf der Höhe blieb er stehen und trank in einem Zuge die Flasche mit dem schalen warmen Wasser aus. Der Musa Dagh lag vor ihm. Deutlich war im Mond die dicke schwarze Brandwolke zu bemerken, die noch immer aus der Brust des Berges emporqualmte. Der Flammenherd jedoch schien klein geworden zu sein, da ihm kein Wind Leben gab. Dann und wann glomm ein geheimnisvolles Glutherz auf und verschwand wieder.
Da wurde dem Bagradiansohn noch eine Chance gegeben. Nunik hatte etwas gewittert. Vom Feuer wegtretend, nahm sie einen Schatten wahr, der nicht der Schatten eines Mannes sein konnte. Unter dem elenden Volke gab es auch ein paar »herrenlose Kinder«. Eines dieser Kinder, freilich ein achtjähriger Junge nur, wurde ausgeschickt, um den Schatten zu erkunden. Als aber Stephan es hinter sich bröckeln und rascheln hörte, drehte er sich nicht um, sondern begann wie ein Wahnsinniger weiterzulaufen. Sein ganzes Wesen straffte sich in diesem Lauf wie in einem Verzweiflungsakt. Es brauste in seinen Ohren. Waren es Papas Zurufe? War es Haiks zischendes »Vorwärts«? Er rannte, als verfolge ihn nicht ein kleines Kind, sondern jene ganze Kompanie, der er am Abend entkommen war. Die Ruinen des Aquädukts brachen hier gänzlich ab, der Weg weitete sich. Schwarze Vorberge rückten auf die Straße zu. Stephan lief um sein Leben. Ein grausamer Wahn verführte ihn in das erste Seitental, das er schon für das heimatliche der sieben Dörfer hielt. Der schwerelose Geist der Flucht hob ihn über sich selbst hinweg, so daß er wie ein Flügelwesen über die steinübersäte Halde zu schweben vermeinte. Stephan bog in das Tal ein, ohne zu wissen, daß er aus Leibeskräften schrie. Doch er kam nicht weit, über das erste große Hindernis, einen querliegenden Baumstamm stürzend, blieb er liegen.
Als er halb und halb zu sich kam, war der Tag schon da, im nebligen Frühlicht. Stephan aber glaubte fest, es sei vorgestern, die nämliche Stunde, da er auf der Straße jenseits des Sumpfes von El Amk mit Haik in das gütige Hügelland zum Haus des Turkmenen gekommen war. Alles Spätere hatte er vergessen oder nur als matte Traumempfindung behalten. Diese zeitkranke Vorstellung, es sei jetzt vorgestern, wurde noch durch den Umstand genährt, daß er ein Haus vor sich sah, keines freilich aus weißem Kalkstein, sondern eins aus runzligem Lehm und ein fensterlos-abstoßendes dazu. Und aus diesem Haus trat ebenfalls ein Mann mit Turban und grauem Bart, nicht der bäurische Schutzengel von Turkmenen, aber dennoch ein alter Mann. Und siehe, auch dieser Mann prüfte Wind, Wetter, Weltrichtungen, warf einen kleinen Teppich auf die Erde, hockte sich hin und begann die Beugungen und Wendungen des Morgengebetes zu verrichten.
Blitzschnell ging Haiks Weisung durch Stephans Kopf: Alles nachmachen! Und auf derselben Stelle, wo er in der Nacht hingestürzt war, fing er nun mit seiner Kopie an. Es kam aber dabei nichts andres heraus als nur ein mattes Schwanken und Stöhnen. Auch dieser Mann wurde sofort aufmerksam. Doch, wie es schien, weit weniger fromm als jener turkmenische Bauer, unterbrach er sein Gebet, stand auf und näherte sich Stephan:
»Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du?«
Stephan zwang seinen Körper in die Knielage, verneigte sich und legte die Hand aufs Herz:
»Ben bir az hasta im, Effendi.«
Nach diesen wohlgeübten Worten machte er das Zeichen des Durstverlangens. Der Graubärtige zögerte zuerst. Dann aber ging er zum Brunnen, schöpfte einen Krug voll und brachte ihn dem Knaben. Stephan trank unersättlich, obwohl ihm das Wasser sogleich Schmerzen verursachte. Indessen war noch jemand aus dem Hause getreten, nicht hilfsbereite Frauen, wie Stephan erwartete, sondern ein andrer Mann, ein mißgelaunter, schwarzbärtiger. Er wiederholte genau die Fragen des Grauen:
»Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du?«
Der Verlorene machte zwei Bewegungen in unbestimmter Richtung. Sie konnten sowohl Antakje wie auch Suedja bedeuten. Der Schwarze wurde ärgerlich:
»Kannst du nicht reden? Bist du stumm?«
Stephan lächelte ihn aus seinen riesengroßen Augen an, hilflos wie ein dreijähriges Kind. Er kniete noch immer vor den beiden Männern. Der Graue ging zweimal um ihn herum, als betrachte er mit Kennerernst eine geleistete Arbeit. Dann nahm er den Knaben beim Kinn und drehte seinen Kopf ins Licht. Auch der Schwarze beteiligte sich eingehend an dieser Prüfung. Nachher gingen sie ein paar Schritte zur Seite und redeten streitbar miteinander, ohne jedoch Stephan aus den Augen zu lassen. Als sie mit ihrer Auseinandersetzung fertig waren, hatten sie die Gesichter von Menschen bekommen, denen ein schweres öffentliches Amt übertragen ist. Der Schwarzbart eröffnete das Verhör:
»Bist du beschnitten oder unbeschnitten, Junge?«
Stephan verstand nicht. Jetzt erst schmolz sein zutrauliches Lächeln zu einem angstvollen Frageblick. Sein Schweigen erregte den Zorn der beiden Moslems. Harte eifernde Laute hagelten auf ihn nieder. Er wußte trotz ihrer Ausrufe und Gebärden immer weniger, was sie von ihm wollten. Da riß dem Schwarzbart die Geduld. Er packte den Knienden unter den Armen und zog ihn hoch. Der Graue aber entblößte ihn und untersuchte genau, was zu untersuchen war. Nun hatten sie die Bestätigung. Der verschlagene Armenierjunge, der sich stumm und taub stellte, war ein frecher Spion, den die Bergkämpfer ausgesandt hatten. Da war keine Zeit zu verlieren. Sie stießen den taumelnden Stephan vor sich her, den schmalen Talweg von Ain Jerab hinab bis zur großen Straße. Dort hielten sie ihn fest, bis der erste leere Ochsenkarren aus der Umgebung von Antakje des Weges nach Suedja kam. Der Fuhrmann mußte sofort im Namen des öffentlichen Dienstes sein Ziel ändern. Die Schergen hoben ihren Gefangenen in das Gefährt. Der Schwarze hockte sich an seine Seite, während der Graue nebenherschritt und in erregten Worten den Inhaber des Karrens über die Gefahr aufklärte, die er soeben abzuwehren im Begriff sei.
Nun aber, da Stephans Schicksal besiegelt war, nahm eine milde Himmelsmacht ihm die Gegenwart völlig von der Seele. Sein Kopf fiel in den Schoß des Schwarzbärtigen, seines tödlichen Feindes. Und sonderbar! Der Grimmige stieß sein Opfer nicht von sich. Er saß starr und rührte sich nicht, als wolle er dem Jungen nicht weh tun. Das glühende Gesicht in seinem Schoß, die offenen Augen, die ihn anschauten und doch nicht sahen, der fiebrische Atem, der die blutroten Lippen blähte, diese ganze kindlich hingegebene Nähe wühlte in dem winzigen Gemütsraum des Schwarzen eine wilde Bitterkeit auf. Die Welt war so und nicht anders. Man mußte in ihr zuschlagen!
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