Название: Das Netzwerk
Автор: Markus Kompa
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783864896224
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»Conny, ich …«
Aber Conny hatte bereits aufgelegt und das Telefon stumm geschaltet. Die Social-Media-Agentur Hegemann & Friends, die offiziell auf den Namen von Felix Hegemann lief, hatte im Hintergrund Conny aufgezogen. Zwanzig Leute vom Kernteam und in Stoßzeiten sogar bis zu achtzig Personen saßen an ihrem Heimarbeitsplatz vor der Tastatur, um im Web 2.0 den von Connys Kunden gewünschten Spin zu liefern. In den Diskussionsforen, deren Kommentare unter jeder Meldung in den Online-Medien erschienen, gaben die digitalen Söldner von Hegemann & Friends häufig den Ton an und ließen nichts anbrennen. Manchmal waren die Hofmänner bereits einen Tag vor Erscheinen wichtiger Artikel informiert, meistens mussten sie spontan reagieren. Seitdem Twitter die Reaktionsgeschwindigkeit von Trends auf Echtzeit beschleunigt hatte, ging im PR-Business ohne Social-Media-Profis nichts mehr. Keine Online-Umfrage, in der nicht die »Friends« von Hegemann den Ausschlag gaben. Da die Beteiligung in Medienforen häufig lächerlich gering war, konnte die Firma fast immer die gewünschte Dominanz liefern. Conny hatte anfangs das für sie tippende Personal noch in der Rolle des scheinbar auf Stundenbasis angeheuerten Coachs »Sabine« ausgesucht und angeleitet, inzwischen überwachte sie online die festangestellten Controller und traf für Felix, den sie vor anderen unterwürfig siezte, die strategischen Entscheidungen. Jeder der »Friends« sollte fünf qualifizierte Social-Media-Kontakte die Stunde vorweisen. An einem Arbeitstag von sechs Stunden injizierte die Agentur mindestens fünfhundert Kommentare und Tweets in die Pipeline, die Journalisten für die öffentliche Meinung im Internet hielten. In Zeiten, in denen das Publikum den etablierten Medien immer weniger traute und sich zunehmend im Internet und in Büchern von Verschwörungstheoretikern informierte, war die Kontrolle über die Lufthoheit in den Social Media immer wichtiger geworden.
Längst hatten auch andere PR-Agenturen dieses Geschäftsfeld für sich entdeckt. Felix hatte sich scherzhaft den Titel »geschäftsführender Troll« gegeben, tatsächlich aber bestand seine Hauptaufgabe darin, Conny von allem abzuschirmen. Über Dreiecksgeschäfte ließen sich die Geldflüsse an sie verschleiern. Die Kunden bekamen sie nie zu Gesicht. Im aktuell anlaufenden Wahlkampf nun waren die Auftragsbücher voll. Ein täglicher Ausstoß von zweitausend Qualitätskommentaren war ein realistisches Ziel. Ein neuer Großkunde war sogar bereit, für fünftausend ein anständiges Honorar zu bezahlen. Aber auch in dieser Branche war es schwierig, kurzfristig gutes Personal zu finden. Sogar für unqualifiziertes Personal bot Hegemann & Friends Arbeit: So tippten dort schlichte Gemüter fotografierte Zahlen ein, um auf diese Weise online die Eingabe authentischer Menschen vorzutäuschen. Danach bewerteten Sie die Produkte der Kunden in Verbraucherportalen positiv mit fünf Sternchen. Manchmal verlangten die Kunden auch, dass konkurrierende Anbieter nur einen Stern erhielten. Der Preis war der gleiche. Um bei Amazon glaubwürdig kommentieren zu können, ohne von den dortigen Admins als Fake entlarvt zu werden, sponserten Hegemanns Kunden sogar Testkäufe von Produkten, welche die Mitarbeiter dann freundlicherweise behalten durften.
Doch Hegemanns Miet-Trolle stellten nur das Fußvolk von Connys digitaler Armee. Die Veteranen von Connys Streitkräften waren die »Wikinger«. Zu dem Zeitpunkt, als die Wikipedia noch ein kleines Nerd-Projekt gewesen war, hatte sich Conny bereits in die Community der Wikipedia-Aktiven eingeklinkt. Denn wer in der Wikipedia Inhalte platzieren wollte, benötigte innerhalb der Gruppe ein Standing. Dieses erwarb man sich durch Fleiß, langjährige Projektzugehörigkeit, offline-Freundschaften und perfekte Beherrschung der Insider-Kommunikation. Die deutsche Wikipedia-Community bestand überwiegend aus männlichen Nerds um die Dreißig, meist Singles, die oftmals wegen Krankheit langzeitarbeitslos waren und online ihr vermeintliches Expertentum auslebten. Als eine der wenigen attraktiven Frauen wurde Conny bei den Wikis schnell die Femme fatale, deren Wort galt. Wenn Conny beim Bearbeiten eines Artikels eine andere Meinung hatte und einen Edit War vom Zaun brach, waren Minuten später Connys Guardian Angels zur Stelle, die grundsätzlich für sie Partei ergriffen und hartnäckigen Gegnern das Leben schwer machten. Neben ihren tatsächlichen Wikipedia-Freunden kommandierte Conny natürlich auch ein streitfreudiges Regiment an sogenannten Sockenpuppen. Das waren inszenierte Pseudo-Accounts, die sich alle Wikipedianer anlegten, damit wenigstens irgendjemand der eigenen Meinung beipflichtete. Mit den Sockenpuppen ließen sich außerdem Abstimmungen manipulieren. Was der von der Wikipedia angestrebte »neutrale Standpunkt« genau war, sah jeder anders, vor allem bei politischen oder religiösen Themen. Da die Manipulation mit Sockenpuppen gegen die Wikipedia-Regeln verstieß, hatte die Community einen internen Geheimdienst aufgebaut, der solche Betrügereien aufspüren sollte. Eine Handvoll Wiki-Admins war mit der Checkuser-Berechtigung ausgestattet, die Zugang zu professionellen Tools erlaubte, um Fakes zu identifizieren. So konnte man etwa an der IP-Nummer erkennen, wer vom gleichen Anschluss aus editierte. Oft verrieten sich Sockenpuppen auch durch identische Rechtschreibfehler und gleiche Ausdrucksweisen, die automatisch mit auch im Geheimdienst üblichen Stilometrie-Tools abgeglichen wurden. Verdächtige Nutzer wurden auf Schreibgewohnheiten oder identische Tageszeiten gerastert. Da sich jeder Wikipedianer, der etwas auf sich hielt, mindestens eine Sockenpuppe hielt, hatten die Checkuser allerhand zu tun. Conny steuerte sechzehn Nutzer, die von der Wikipedia-Community über viele Jahre hinweg als echt anerkannt worden waren. Jede ihrer Sockenpuppen hatte ein bestimmtes Profil. So war »Herbert« scheinbar ein pensionierter siebzigjähriger Lehrer aus Darmstadt. Herbert formulierte als Philologe zurückhaltend und akademisch. Eine Software sorgte dafür, dass Herbert automatisch noch immer ein scharfes »ß« verwendete, wo nach der Rechtschreibreform schon lange ein Doppel-S gesetzt werden musste. »Ingo« war hingegen ein aggressiver Hitzkopf aus Hannover, schrieb jedes »dass« grundsätzlich nur mit einem »s« und ließ dank der Software jegliches Komma weg. Ingo ging mit seinen Gesprächspartnern rüde um, sperrte schnell andere Nutzer, kassierte selbst befristete Sperren und gab den reumütigen Sünder. »Denise« war ein Küken, das ebenso wie Conny die männliche Community um den Finger wickelte und sich den Neid der optisch weniger vorteilhaften Wikipedianerinnen zuzog. Connys erfolgreichster Charakter »Heidrun« hingegen bediente die Netzfeministinnen, die sich in einem subjektiven Stellungskrieg gegen die Männerwelt profilierten, sich aber in erster Linie gegenseitig wegen des »einzig richtigen Feminismus« bekriegten. Heidrun war deshalb so beliebt, weil sie statt sich ständig zu zanken möglichst allen Feministen Recht gab und nur gegen die gemeinsamen Feinde schoss. Vor allem ihre Gefechte mit einem gewissen »Boris« brachten Heidrun großen Respekt und Solidarität bei den Netzfeministinnen ein. Auch der so schrecklich frauenfeindliche Boris war in Wirklichkeit ein von Conny inszeniertes Fake, das regelmäßig für Aufmerksamkeit sorgte. Auf diese Weise profilierte sie nicht nur ihre Avatare, sie erhielt auch bezüglich jeder Strömung per Direktmail vertrauliche Informationen zugesteckt und wusste stets, was lief. Inzwischen hatte sie ihre Freunde und Sockenpuppen in praktisch allen wichtigen inoffiziellen Kanälen, in denen innerhalb der zerstrittenen Wikipedia-Community Intrigen geschmiedet wurden. An der Authentizität von Connys sechzehn Wiki-Admins, die sich allesamt täglich um das Projekt verdient gemacht hatten, gab es in der größtenteils anonymen Community keinen Zweifel, obwohl sich diese Admins nie auf Offline-Treffen sehen ließen. Einmal war Conny ein Berliner Admin mit Checkuser-Berechtigung auf die Schliche gekommen, doch Conny hatte dieses Problem auf ihre Art gelöst: Sie hatte den übereifrigen Wikipedianer, der noch nie eine Frau berührt hatte, aufgesucht, verführt und ihm dann sanft auf die Finger geklopft. Ihm Schreibverbot in der Wikipedia zu erteilen, wäre für sie keine Option gewesen.
Auch bei Facebook hatte Conny eine Privatarmee von Sockenpuppen aufgestellt. Ihr inszeniertes Beziehungsgeflecht an langjährigen Scheinidentitäten überschnitt sich teilweise mit ihren Wikipedia-Sockenpuppen. Weil sie jedoch die Gefahren von Facebook für ihre Privatsphäre bereits sehr früh erkannt hatte, installierte sie dort ausschließlich Fakes. Mit Faszination verfolgte sie die Tricks, mit denen Hacker naive Zeitgenossen dazu brachten, Rückschlüsse auf ihre echte Identität oder verbreitete Passwörter wie die Namen von Haustieren preiszugeben. Während Conny etliche Identitäten auf Facebook laufen hatte, suchte man die wahre Conny in Social Media nach wie vor vergeblich. Wer ihre Freunde waren, ging niemanden etwas an.
Ihr aktuellstes Projekt war die ebenfalls mit Felix diesmal allerdings hochkonspirativ aufgezogene СКАЧАТЬ