Название: Ein Mann
Автор: Joachim Nettelbeck
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 4064066118167
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Unser ehrlicher Vater Harmanns, der in seiner Kajüte geschlafen hatte und dem wir am Morgen unser nächtliches Abenteuer mitteilten, nahm sich den Affront, welcher seinen Schützlingen widerfahren war, mehr zu Herzen, als wir erwarteten. Trotz unserer Vorstellungen las er der Wirtin einen derben Text, sagte ihr und ihrem Hause, wo er so viele Jahre verkehrt hatte, alle Gemeinschaft auf und wollte jede Christenseele warnen, keinen Fuß über diese unwirtliche Schwelle zu setzen. Wir hatten genug zu tun, den lieben alten Mann zu beschwichtigen, der sich's nicht nehmen ließ, uns noch zu guter Letzt durch ein vollständiges Frühstück satt zu machen, ja auch alle unsere Taschen mit Brot, Käse, gekochtem Fleisch und was er sonst wußte und hatte, vollzustopfen.
Das getan, ergriff er seinen Stab und wanderte mit uns zum Tore hinaus, wie sehr wir ihn auch bitten mochten, umzukehren und seine Kräfte zu schonen. Vielmehr hörte er nicht auf, uns eifrig wegen unseres besseren Fortkommens zu beraten, und während dieser Besprechungen verlief ein Stündchen nach dem anderen, es ward Mittag, und wir befanden uns in Franecker. Hier zog er mit uns in ein Wirtshaus, ließ auftragen, als ob wir uns für drei Tage sattessen sollten, und konnte sich endlich nur schwer entschließen, uns das Valet zu geben. Noch drückte er uns beim Abschiede zwei holländische Dukaten in die Hände; wir aber schieden mit Tränen der Dankbarkeit von diesem Ehrenmanne und gelangten abends wohlbehalten nach Leuwaarden, wo wir übernachteten.
Die nächste Tagereise brachte uns spät in der Dunkelheit nach Dockum, aber es wollte uns nicht gelingen, hier eine Herberge zu finden. Überall, wo wir anklopften, beleuchtete man uns sorgfältig von allen Seiten und zog dann die Tür uns vor der Nase ins Schloß mit einem frostigen: »Geht weiter mit Gott!« – Es war eine kalte, stürmische Nacht; wir irrten umher und jammerten, bis wir endlich bei einem Hinterhause an einen Stall gerieten, wo ein Knecht noch den Dünger auskehrte. Vergebens klagten wir auch diesem unser Leid und baten ihn, uns die Nacht in seinen warmen Stall aufzunehmen; er fürchtete, sich dadurch Scheltworte bei seinem Herrn zu verdienen, und uns blieb zuletzt nichts übrig, als uns hinter einer Scheune zunächst dem Tore, wo es etwas Überwind gab, zusammenzukauern und uns recht herzlich satt zu weinen. Hatten wir eine Weile gesessen, so sprangen wir wieder auf und rannten auf dem Platze hin und her, um nicht vor Frost zu erstarren. Es ward uns aber wahrlich je länger je übler zumute.
Das währte so fort, bis nach Mitternacht, wo wir Räder rasseln und ein Posthorn blasen hörten. Eine Kutsche hielt am Tore, und auch wir kamen hinter unserer Scheune hervor, um zu sehen, was es gäbe? Bis die Torflügel und Gatter sich öffneten, standen wir aus Langeweile um den Wagen her, an welchem der Schlag von innen aufgemacht wurde und von welchem ein lautes »Wer da?« an uns erging. Wir fanden keine Ursache, unserer Personen, Drangsale und gegenwärtigen Not ein Hehl zu haben, und unser unwillkürliches Zähneklappern legte genugsames Zeugnis ein, daß wir die Wahrheit redeten.
Es fand sich nun, daß ein einzelner Mann im Wagen saß und daß ihm unser trübseliger Zustand zu Herzen ging. Nachdem er seinem Unwillen durch einige Verwünschungen gegen die hartherzigen Dockumer Luft gemacht, uns um unsere Heimat befragt (freilich mochten wohl Pommern und Kolberg böhmische Dörfer für ihn sein) und endlich noch erfahren hatte, daß unser Weg zunächst auf Gröningen ginge, so überraschte er uns durch die willkommene Einladung, zu ihm in die Kutsche zu steigen und ihn bis zu dem genannten Orte zu begleiten. Es versteht sich wohl, daß wir arme, erfrorene Schlucker uns das nicht zweimal sagen ließen. Der Wagen rollte mit uns fort und wir mußten unserm Wohltäter die ganze Nacht hindurch alle unsere erlebten Schicksale erzählen. Mit Tagesanbruch sahen wir uns nach Gröningen versetzt und der Mann im Wagen fuhr seines Weges weiter, doch nicht, ohne uns zuvor mit drei holländischen Gulden beschenkt zu haben.
Wir sahen ihm mit herzlichem Danke nach, verfolgten aber gleichfalls unsere Straße zum anderen Tore hinaus, nachdem wir bloß unseren Brotbedarf erneuert hatten, und erlebten an diesem Tage kein ferneres Abenteuer, als daß wir an einem Gittertore von einem barschen Kerle angerufen und uns sechs Stüber Zollgeld abgefordert wurden. Unser Protestieren, daß wir arme schiffbrüchige Leute seien, die man ja wohl verschonen werde, half zu nichts; wir wurden in die Stube des Zollhauses gezerrt und sollten zahlen. Nun wäre die Summe wohl zu erschwingen gewesen und meine Kameraden winkten mir auch zu, nur in Gottes Namen den Beutel zu ziehen; allein dieser, samt unserem ganzen kleinen Reichtum, saß so tief und wohl verwahrt in meinen Beinkleidern, daß ich ein billiges Bedenken trug, ihn vor diesen Zeugen zum Vorschein zu bringen. Darüber saßen wir hier wohl eine gute halbe Stunde lang, gleichsam wie im Arrest, und es ward mit uns um die sechs Stüber kapituliert.
Ganz wie vom Himmel kam uns jedoch ein Erlöser in der Person eines Postboten, der zu uns eintrat, weil er hier Briefe abzugeben hatte. Er ließ sich den Handel von beiden Parteien umständlich vortragen und schlug sich, wie billig, auf unsere Seite, wobei es denn nicht ohne eine nachdrückliche Gewissensrüge an den unbarmherzigen Zöllner abging. Dieser aber blieb steif und unbeweglich auf seinem Zoll-Reglement und seinen sechs Stübern bestehen, bis endlich unser eifriger Sachwalter den eigenen Beutel zog, jenem das Weggeld hinwarf und nun uns triumphierend aufforderte, in Gottes Namen unseres Weges zu gehen. Das taten wir denn auch, ohne es an unserer Bedankung für seine Großmut mangeln zu lassen.
Nun aber gerieten wir in andere Nöte. Meine beiden Begleiter, der angestrengten Märsche ungewohnt, hatten die Füße voller Blasen und fanden sich auch anderweitig unbequem, so daß mir's immer schwerer fiel, sie des Weges vorwärts zu bringen. Ging ich meinen guten Schritt vorweg und sah dann hinter mich, so war der eine noch immer weiter als der andere zurückgeblieben. Bat ich sie, sich zu fördern: – sie wollten nicht, sie konnten nicht; sie weinten. Es gedieh endlich soweit damit, daß mein Bruder auf einem Düngerhaufen am Wege sitzen blieb und unter heißen Tränen beteuerte: jetzt vermöchte er nicht weiter, ich möchte nur meinen Weg vor mich hingehen; wollte ich ihm von unserem Gelde nichts zukommen lassen, so möchte es darum sein. Es sei ihm ohnehin so zu Sinne, als müsse er hier sitzen bleiben und Hungers sterben.
Meine Angst war unaussprechlich. Ich weinte mit ihm um die Wette; ich tröstete, ich versprach ihm goldene Berge, wenn er nur aufstehen und es versuchen wollte, mit mir fortzuhumpeln. Nur bis ans nächste Dorf noch sollte er sich fortschleppen, bevor es Abend würde. Morgen wollten wir ein Fuhrwerk nehmen und alles sollte besser werden. Unter solchem kräftigen Zureden nahm ich ihn endlich unter die Arme, hinkte mit ihm weiter und trug ihn mehr, als er ging, bis wir unser heutiges abgekürztes Reiseziel erreichten. Ich hielt ihm indes Wort und wir fuhren von Dorf zu Dorf, bis wir ins Oldenburgische kamen. Hier aber nahmen wir die halbe Post und erreichten Lübeck; doch griff dies schnellere und bequemere Fortkommen auch so gewaltig in unsere Reisekasse, daß uns, wie knapp wir's auch unserem Munde abdarbten und kaum mehr als das trockene Brot mit einem Wassertrunk genossen, endlich doch der letzte Groschen aus den Händen zerronnen war.
Was blieb zu tun? Ich wandte mich in Lübeck an einen Kaufmann, Herrn Sengbusch, der mir, von Kolberg her, dem Namen nach bekannt war, und ersuchte ihn, uns auf unsere teuergehaltene Taschenuhr zwanzig Taler vorzustrecken. Hierzu war der gute Mann auch willfährig; wir konnten nunmehr mit der Post nach Stettin weiterfahren und fanden hier eine Gelegenheit, die uns vollends nach Kolberg förderte, wo wir in der Mitte des März mit einem baren Kassenbestande von sieben Groschen sechs Pfennigen anlangten und von den Unserigen mit einer Freude, als wären wir vom Tode auferstanden, empfangen wurden.
Fünf Tage lang war ich im lieben Vaterhause gewesen und von der Not kaum wieder ein wenig zur Besinnung gekommen, als schon wieder ein neuer Unglücksstern über mir aufging. Denn da hieß es: die Unteroffiziere von unserem Bataillon, welches damals seine Winter-Quartiere in Torgau hatte, hätten sich bei uns eingefunden, um frische Rekruten in diesem ihrem Kanton auszuheben. Eine Schreckenszeitung für alle Eltern jener Zeit, sowie für alles СКАЧАТЬ