Название: Ein Mann
Автор: Joachim Nettelbeck
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 4064066118167
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Bei weiterer Untersuchung ergab sich's, daß das linke Bein, oberhalb dem Knie, im dicken Fleische gebrochen war; doch am bedenklichsten blieb die Zerschmetterung eines Rückenwirbels, dicht unterm Kreuz, und die dem armen Manne auch wohl die empfindlichsten Schmerzen verursachen mochte; denn während man ihn nach der Kunst behandelte und die Gliedmaßen bald so, bald anders reckte und dehnte, hörte er nicht auf zu winseln und zu ächzen. Uns drei Jungen, die wir Zeugen von dem allem waren, schnitt jeder Klageton tief durchs Herz; und wir heulten und lamentierten mit ihm in die Wette, so daß man sich genötigt sah, uns aus dem Gemache fortzuweisen.
Nachdem der Kranke endlich geschient und verbunden worden, legte man ihn auf ein Feldbett, welches man in die Mitte des Zimmers hingestellt hatte. Eine Klosternonne (Beguine) saß neben ihm und flößte ihm von Zeit zu Zeit einen Löffel roten Weines ein, den sie auf einem Kohlenbecken zu ihrer Seite erwärmte. Am Kopfende des Bettes aber standen wir arme Verlassene und weinten unsre bitterlichen Tränen; und so währte das bis abends, wo ein Pater uns andeutete, daß wir die Nacht über im Kloster nicht bleiben könnten, sondern uns nach einer anderen Herberge umsehen müßten. Diese fanden wir denn auch zu unserer notdürftigen Erquickung in dem vorgedachten Wirtshause; doch brachten wir eine schlaflose, trübselige Nacht zu und wußten nicht, wo Trost und Hilfe zu finden.
Kaum graute auch nur der Morgen, so machten wir uns wieder nach dem Kloster auf den Weg, wo wir den Oheim noch in dem nämlichen Zustande, wie gestern, fanden. Indes hatte man uns verständigt, daß heute Posttag sei, und so ließ ich mir im Gasthofe Papier und Schreibzeug reichen und brachte den Rest des Tages damit zu, sowohl an unsern Schiffsreeder, Herrn Becker, als an meine Eltern nach Kolberg zu schreiben. Die Briefe wurden versiegelt, und am nächsten Morgen standen wir wiederum, von Herzen betrübt, am Bette unseres Kranken, ohne daß wir eine merkliche Veränderung an ihm spürten. Ich beugte mich indes dicht zu seinem Ohre und versuchte die Frage: »Lieber Vatersbruder, sollen wir auch nach Kolberg schreiben?« Er hatte mich verstanden, denn er schüttelte mit dem Kopfe, als ob er Nein sagen wollte. So schwach auch dieser Hoffnungsstrahl seiner wiederkehrenden Besinnung war, so erfüllte er mich doch mit Mut, daß wohl noch alles wieder gut werden könnte. Ich glaubte darum auch, daß ich die Briefe unbedenklich abgehen lassen dürfte, gab den anderen beiden einen verstohlenen Wink und eilte mit ihnen nach dem Postkontor.
Unsere Abwesenheit mochte etwa dreiviertel Stunden gedauert haben. Doch als wir wieder in das Kloster und das Krankenzimmer eintraten, fanden wir zu unserer höchsten Bestürzung und unbeschreiblichem Schmerze nur unseres guten Oheims Leiche vor. Sie ward auch alsbald aus dem Bette genommen auf den nämlichen Tisch wie vorhin ausgestreckt, abermals völlig entkleidet und der wiederholten genauen Besichtigung der Ärzte unterworfen, wo sich denn die zuvor bemerkten Verletzungen noch deutlicher bestätigten. Sobald uns aber die Doktoren verlassen hatten, traten einige Pfaffen herzu und fragten mich: »Zu welchem Glauben dieser unser Schiffskapitän sich bekannt habe?« Ich antwortete unbedenklich: »Ei, zum Lutherschen!«
Sowie dies unglückliche Geständnis über meine Lippen floh, war es gleich, als ob das Gewitter ins Kloster geschlagen hätte. Alles geriet in Bewegung; der eine sprach hitzig mit dem andern; niemand wollte den Seligen anfassen, und doch mußten die Ketzergebeine, ehe die Sonne unterging, aus dem geweihten Bezirke fortgeschafft werden. Man steckte uns endlich eine beschriebene Karte in die Hand, die an einen Tischler lautete, welcher wohl die Lieferung der Särge für das Hospital auf sich haben mochte. Denn als wir ihn uns endlich ausgefragt hatten, fanden wir deren bei ihm einen reichlichen Vorrat vor und wurden bedeutet, unter denselben einen nach der Größe unserer Leiche auszusuchen. Unsere Wahl fiel auf den längsten, weil unser Oheim von einer ansehnlichen Statur gewesen war, und mit diesem Sarge wanderten wir nun nach dem Kloster zurück.
Hier trieb man uns, ohne sich zu irgendeiner Handreichung zu verstehen, mit barschem Ernste, den Leichnam unverzüglich einzusargen und ihn aus dem Gemache hinweg auf die Straße unter einen uns dazu angewiesenen Schuppen zu bringen. Unsere Wehmut kannte keine Grenzen. Indes taten wir, wie uns geboten worden; man reichte uns Hammer und Nägel, um den Deckel zuzuschlagen, und nun hoben wir an, den Sarg mit den uns so teuren Überresten eine kurze Strecke auf den Flur fortzuziehen und zu schieben. Hier aber übermannte und lahmte der ungeheure Schmerz plötzlich all unsere Kräfte, und wir fühlten uns, in ein lautes und vereintes Jammergeschrei ausbrechend, ohne Vermögen, die geliebte Last auch nur einen Schritt weiter zu bringen. Ich fiel vor dem einen Pater auf die Knie und bat um Gottes willen, man möchte sich unser erbarmen, denn wir könnten hier nichts mehr tun.
Jetzt gab es ein kurzes Gespräch unter den Anwesenden; ein Aufwärter ward fortgeschickt, und binnen einer Viertelstunde erschienen vier Kerle mit einer Trage, und jeder mit einem Spaten versehen. Sie packten die Leiche an; und so ging der Zug zum Tore hinaus, etwa zweitausend Schritte weit und gerade auf eine Kirche zu. Wir, die wir den Trägern gefolgt waren, meinten, der Leichenzug eile dem Kirchhofe zu. Das war aber weit gefehlt: denn es ging, neben dem Gotteshause vorüber, wohl noch tausend Schritte weiter auf ein freies Feld; und da die Träger ihre Last wohl zwanzigmal niedergesetzt hatten, um frischen Atem zu schöpfen, so begann es bereits dunkel zu werden, bevor wir die Grabstätte erreichten.
Es war ein Fleck am Wege, der nichts hatte, was einem Totenacker ähnlich sah. Hier sollten wir nun ein Grab graben; da es aber den Kerlen damit zu lange währte, nahmen sie uns verdrießlich die Spaten aus den Händen, schaufelten und schalten uns »Ketzer«. Wir hingegen gaben alle mögliche gute Worte; und sobald auch nur das Grab so tief geöffnet war, daß der obere Sargdeckel unter Erde kommen konnte, senkten wir die Leiche mit Weinen und Wehklagen hinein, füllten die Erde drüber her, nahmen unter tausend heißen Tränen Abschied, und wanderten bekümmert wieder auf unseren roten Löwen zu; – doch nur, um nach einer ängstlich durchseufzten Nacht gleich am nächsten Morgen wieder das Grab des lieben Oheims aufzusuchen und auf demselben zu jammern.
Fürwahr, wer eine menschliche Seele hat, wird unser Elend mit uns fühlen! Da saßen wir drei Jungen, von achtzehn bis zu vierzehn Jahren herab, in der größten Leibes- und Seelennot – in einem ganz fremden Lande, auf dem freien Felde und über dem frischen Grabhügel unseres geliebten Vaters und Führers! – saßen, als eine arge Ketzerbrut von jedermann gemieden und ausgestoßen, ohne einen Pfennig im Vermögen, nichts in und wenig auf dem Leibe, in dieser rauhen Jahreszeit, ohne Trost oder Hilfe von Menschen! Betteln konnten und wollten wir nicht: lieber hätten wir hier auf dieser Grabeserde des geliebten Hingeschiedenen gleichfalls verscheiden und verschmachten mögen! Er allein war in diesen trostlosen Augenblicken unser Gedanke und unsere Zuflucht. »O Vatersbruder, erbarmt Euch!« riefen wir unaufhörlich, bis wir uns müde geschrieen hatten und das Törichte unseres Beginnens einsahen.
Jetzt erst konnten wir uns untereinander beraten, was wir in dieser unserer gänzlichen Verlassenheit anzufangen hätten? Der Schluß fiel dahin aus, daß wir des nächsten Morgens zu unserem Schiff und unseren anderen Kameraden zurückkehren wollten. Wo diese blieben, wollten auch wir bleiben und ihr Schicksal mit ihnen teilen. Unser einziger und letzter Notanker aber war des verstorbenen Oheims Taschenuhr, die wir an uns genommen hatten und, wenn uns zuletzt das Wasser an die Kehle ginge, loszuschlagen gedachten. Ob dies schon im roten Löwen würde geschehen müssen, wohin wir nun zunächst zurückkehrten, sollten wir alsbald erfahren. Gesättigt und durch einigen Schlaf erquickt, kam denn auch am Morgen darauf unsere bisherige Zeche zur Sprache. Doch der gute Wirt, den unser trauriges Schicksal erbarmt hatte, war mit unserem Danke und einem herzlichen Gott lohn's! zufrieden; wir aber wanderten ebenfalls in Gottes Namen wieder den Strand entlang, um unsere zurückgelassenen СКАЧАТЬ