Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
isbn:
Frau Böhk hatte viel Ähnlichkeit mit Agnes, nur war sie eine sehr blühende, in die Breite gegangene Agnes. Die Schwestern hatten gleich graue Augen, aber die der Hebamme waren runder, traten mehr hervor und rollten unternehmender. Das ganze Gesicht hatte ein jüngeres, gesünderes Aussehen und glänzte, wie von Firnis überzogen. Sie entledigte sich endlich ihres Tuches und ihrer Pakete, sprach immerzu und belebte das Gemach mit ihren runden, hastigen Bewegungen, und als noch die Mädchen hereinkamen und, von der Tante gescholten, hin und her schossen, da ward das Treiben so bunt und lebhaft, dass es Rosa schwindelte.
»Wo sind die Jungen?« fragte Frau Böhk.
»Hans ist in seinem Zimmer und schläft«, berichtete Martha. »Der Onkel ist ausgegangen.«
»Was der auch nie zu Hause bleiben kann.«
»Vielleicht eine Bestellung«, meinte Grethe, musste aber schnell zur Türe hinaus, weil ein zu wildes Lachen in ihr auf stieg.
»Bestellung!« sagte Frau Böhk verächtlich. »Wenn die Grethe doch einmal etwas Vernünftiges sagen würde! Gleichviel! Mit dem Essen wird nicht gewartet!«
Als die Familie sich um die Kalbsleber mit Erdäpfeln geschart hatte, ward Frau Böhk ruhiger, und ihre Nichten machten sich mit Ernst über das Essen her. Die roten, blanken Gesichter auf die Teller herabgebeugt, die Arme weit auf den Tisch geschoben, bewegten sie bedächtig die Kinnbacken. Vor der Hausfrau stand ein Bierkrug, aus dem sie sich ein Glas nach dem andern vollschenkte. »Ja. Fräulein«, wandte sie sich an Rosa, »bei meiner Arbeit muss ich Bier trinken, denn ich brauche Kraft, viel Kraft. Ordentlich ringen muss ich mit manchen Frauen. Wenn Sie meinen Arm sehen würden, blau ist er, und hier oben – die Narbe muss noch da sein –, später, wenn ich mich auskleide, werde ich sie Ihnen zeigen – hier hat mich die Jenny Walter gebissen – du weißt, Agnes, die Tochter von dem Schmied Walter, sie hatte das Kind von dem Karl Martis, der als Soldat fortmusste. Die arme Jenny also biss mich in den Arm – aber fest, wissen Sie, wie die Martha jetzt in den Erdapfel beißt.«
Die Mädchen räumten das Gerät ab. »Dem Hans«, befahl Frau Böhk, »tragt das Essen hinauf. Des Fräuleins wegen wird er nicht herabkommen wollen.« Und nun setzte sie sich bequem zurecht, nestelte sich die Jacke auf, schenkte ein Bier ein und plauderte.
Ach, Rosa wusste es gewiss nicht, was für eine geplagte Person Frau Böhk war, wie sollte sie auch! Die Fräuleins in der Stadt dürfen ja von solch einer Person gar nicht sprechen; das wusste Frau Böhk wohl. Aber wenn man Frau Böhk nötig hatte, dann war sie nicht mehr unanständig. Sie lachte ein lautes, fettes Lachen, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Ach was, ihr war’s gleich, ob man in der Stadt von ihr sprechen durfte oder nicht. Was sie von einem jeden vernünftigen Frauenzimmer verlangte, war, dass es sich im großen Augenblick benahm, wie es sich gehört.
Die Mädchen setzten sich mit ihrer Näherei auch an den Tisch, die Köpfe so tief in die Arbeit niederbeugend, dass man nur das braune Haar und die weißen Scheitel sah. Zuweilen jedoch, während die Tante ihren Vortrag hielt über das richtige Verhalten einer Frau in der schweren Stunde, zuweilen hoben Martha und Grethe die Köpfe, sahen sich an und drückten die Leinwand, an der sie nähten, gegen die Lippen, um das Lachen zu dämpfen.
Rosa war müde und schläfrig, ein süßes Behagen breitete sich über sie unter diesen derben, gesunden Menschen, die nach Wolle und frischer Winterluft rochen. Sie fühlte sich unter ihnen sicher geborgen, und das Leben erschien ihr wieder wie ein einfaches, selbstverständliches Ding, das man ruhig hinnimmt und trägt, bis es einem wieder genommen wird. Nichts weiter.
Frau Böhk wünschte Rosa eine sehr gute Nacht; sie umschlang sie mit beiden Armen und sagte warm: »Schlafen Sie recht süß, liebes Kind, und lassen Sie sich etwas Gutes träumen. Sie wissen das doch, in unserem Fall muss man von Vögeln oder Hunden träumen; besonders Hunde sind gut.«
Rosas Zimmer war ein enges Giebelstübchen, das nach frischem Kalk roch. Ein Bett, ein kleines schwarzes Sofa, ein Tisch und Stühle standen darin, an dem Fenster hingen weiße Vorhänge, und ein verkümmerter Rosenstock schmückte das Fensterbrett. Rosa schob die Vorhänge zurück und schaute hinaus. Die Nacht war hell. Im Sternschein schliefen die niedrigen Häuser unter ihrer Schneedecke. Mitten auf der Straße stand der Nachtwächter mit seiner spitzen Kapuze, seiner Laterne und schnarrte – brrr, brrr – eine meckernde, eintönige Weise, wie das Lied einer alten Kindsfrau, die schläfrig an den weißen Kinderbetten sitzt.
»Morgen«, sagte Agnes, »bleibe ich noch bei dir. Dir wird bange sein unter den fremden Leuten.«
»Nein!« erwiderte Rosa. »Fahr nur. Der Vater blieb so allein zurück, und mir – mir, glaube ich, wird nicht bange sein.« –
Zweites Kapitel
Bei Agnes’ Abreise weinte Rosa doch. Die Tränen und Segenswünsche der alten Frau bewegten ihr das Herz. Nun saß sie unten im Wohnzimmer und fühlte sich verlassen. Frau Böhk machte einen Geschäftsgang. Die Mädchen wuschen nebenan den Fußboden der Küche, ihr Lachen und das Klatschen der nassen Tücher tönten zu Rosa herüber. Draußen schmolz der helle Sonnenschein den Schnee und hing stark leuchtende Tropfen an die Dächer. Im Hof flimmerten die Wasserlachen. Stroh, Dünger, grau gewordener Schnee lagen dort. Einige Hühner schüttelten ihre nassen Federn und gingen langsam auf und ab. Durch die offene Stalltüre sah man die braunen Hinterfüße und ein Stück des blanken Rückens einer Kuh, während auf der anderen Seite ein Schwein vergeblich seinen Rüssel durch die Stäbe des Verschlages zu zwängen versuchte. Und zwischen dem Stall und dem Speicher konnte Rosa auf das Land hinaussehen. Ein fernes Birkenwäldchen war die einzige Unterbrechung der einförmigen Weise. Die zarten Stämme standen auf dem Schnee wie dünne Striche auf einem Bogen Papier.
Plötzlich ward die СКАЧАТЬ