Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ zur Na­tur, das un­ent­wi­ckel­te See­len erst emp­fin­den, wenn sie elend sind. Rosa be­nei­de­te die Ne­bel­krä­hen, die breit­bei­nig auf den Fel­dern spa­zie­ren­gin­gen und nach­denk­lich mit den schwar­zen Köp­fen wa­ckel­ten. Sie hüpf­ten gleich­gül­tig be­ru­higt her­um, wie Kin­der im El­tern­hau­se. Wenn der Wa­gen zu nah an ih­nen vor­über­fuhr, stie­ßen sie är­ger­lich knar­ren­de Lau­te aus und flo­gen auf – fort – in den grau­en Win­ter­him­mel hin­ein, ei­nem fer­nen Wald­ran­de zu, wo sie ih­ren Platz hat­ten. »Ja, gut muss es tun, in die­ser stil­len, rei­nen Welt sei­nen Platz zu ha­ben – hier zu Hau­se zu sein!« dach­te Rosa.

      An klei­nen Land­schän­ken hielt der Wa­gen, da­mit die Pfer­de sich ver­schnauf­ten. Schmut­zi­ge Kin­der stan­den auf den Trep­pen­stu­fen, hüpf­ten von ei­nem Fuß auf den an­dern und sa­hen die Frem­den neu­gie­rig an. Durch die Hau­stü­re schlug der Rauch des Herd­feu­ers ins Freie hin­aus, und durch die Fens­ter sah man in klei­ne, dunkle Stu­ben hin­ein. – Ge­gen Abend be­gann es zu schnei­en. Aber durch das krau­se Wir­beln der Flo­cken konn­te Rosa doch auf den hel­ler wer­den­den Ho­ri­zont hin­ab­schau­en, ein zart­gold­nes Band und ein Stück durch­sich­tig wei­ßen Him­mels. Ge­gen die­se Hel­lig­keit ho­ben sich ein spit­zer Kirch­turm und die grad­li­ni­gen Mas­sen ei­ni­ger Häu­ser dun­kel ab. Lich­ter er­wach­ten dort, trü­b­ro­te Fun­ken, auf das rei­ne, blas­se Him­mels­gold ge­streut.

      »Ist das Ti­glau?« frag­te Rosa. Ag­nes fuhr aus dem Schlaf, in den sie ver­sun­ken war, auf und mein­te, frei­lich sei das Ti­glau.

      So hat­te es sich Rosa ge­wünscht, ver­lo­ren im wei­ten, däm­me­ri­gen Lan­de. Hier muss­te man Ruhe fin­den kön­nen.

      Die ers­ten Häu­ser des Markt­fle­ckens zeig­ten sich schon, ärm­li­che ein­stö­cki­ge Häu­ser. Durch die Fens­ter ohne Vor­hän­ge sah man im Schein ei­ner Pe­tro­le­um­lam­pe un­ge­kämm­te Kin­der­köp­fe – Frau­en in zer­knit­ter­ten Baum­woll­ja­cken – nack­te Säug­lin­ge auf dem Arm. An den Bret­ter­zäu­nen, die die Stra­ße ein­fass­ten, war­fen sich Bu­ben mit Schnee­bal­len, und wenn der Wa­gen an ih­nen vor­über­fuhr, ho­ben sie rote, er­fro­re­ne Ge­sich­ter zu ihm auf, lach­ten und pfif­fen ihm nach. An den meis­ten Häu­sern be­fan­den sich klei­ne Vor­gär­ten, und dort, zwi­schen den be­schnei­ten Bü­schen, stan­den Män­ner und spra­chen zu dunklen Ge­stal­ten hin­auf, die sich aus dem Fens­ter zu ih­nen nie­der­beug­ten. Die gan­ze enge Gas­se ward von fri­schem Ki­chern, von aus­ge­las­se­nem Krei­schen, von ei­nem ju­gend­lich lus­ti­gen Trei­ben be­lebt, das sich in der Däm­me­rung ge­hen­ließ.

      Vor ei­nem dunklen Hau­se mit spit­zem Gie­bel hielt der Wa­gen. Die Haus­tür stand of­fen. »Hier – hier Kind«, sag­te Ag­nes und führ­te Rosa durch den fins­tern Flur. »Ist denn nie­mand zu Hau­se? Hier muss die Türe zur Kü­che sein, das weiß ich noch. Rich­tig, da ist sie.« – Sie tra­ten in einen däm­me­ri­gen Raum. Ein star­ker Gera­ni­um- und Zwie­bel­ge­ruch und ein hef­ti­ger Zug­wind schlu­gen ih­nen ent­ge­gen. Die bei­den Fens­ter des Ge­ma­ches wa­ren ge­öff­net, und in ei­nem je­den der­sel­ben lag je­mand, den Ober­kör­per hin­aus­beu­gend; man un­ter­schied nur zwei fal­ti­ge Mäd­chen­rö­cke und vier un­ru­hi­ge Füße, die sich auf die Spit­zen stell­ten. Ein ge­dämpf­tes Spre­chen – Män­ner- und Frau­en­stim­men klan­gen her­über, zu­wei­len von ei­nem hellauf­pras­seln­den Ge­läch­ter un­ter­bro­chen.

      »Das ist doch wirk­lich!« schalt Ag­nes. »Mäd­chen, hört ihr denn nicht?« Nein, die Mäd­chen hör­ten nicht; Ag­nes muss­te kräf­tig an ei­nem der Rö­cke zie­hen, da erst ward es still. Zwei Ge­stal­ten rich­te­ten sich mit lei­sen Schre­ckens­ru­fen auf, und wie sie sich ge­gen den hel­len Ho­ri­zont ab­ho­ben, er­schie­nen sie Rosa selt­sam groß und breit.

      »Was macht ihr denn?« zank­te Ag­nes. »Wir ste­hen hier und ru­fen, aber nie­mand hört. Wer­det ihr nicht die Fens­ter schlie­ßen, mein Fräu­lein wird sich er­käl­ten.« Die Mäd­chen ge­horch­ten, aber große Män­ner­hän­de wur­den von au­ßen her­ein­ge­streckt und muss­ten erst zu­rück­ge­scho­ben wer­den.

      »Du – Mar­tha – bist die äl­te­re«, kom­man­dier­te Ag­nes wei­ter, »ste­cke die Ker­ze an. Ist die Tan­te nicht da­heim? Habt ihr uns heu­te gar nicht er­war­tet? Ich schrieb doch.«

      Mar­tha beug­te sich tief auf das Streich­holz nie­der, mit dem sie das Licht an­ma­ch­te, und er­wi­der­te: Doch, die Tan­te hat­te ge­war­tet. Am Nach­mit­tage aber hat­te die Bäcke­rin nach ihr ge­schickt; sie muss­te gleich wie­der da sein.

      »So – so«, mein­te Ag­nes be­sänf­tigt und half Rosa ih­ren Man­tel ab­le­gen: »Zieh dich hier aus, Kind, dann ge­hen wir ins Wohn­zim­mer hin­über. Ge­fro­ren hast du – was? Kommt, Mäd­chen, leuch­tet uns. Ah, hier ist’s warm! Setz dich dort auf den Ses­sel, Kind, lege die Füße auf den Fuß­sche­mel. So! Wenn wir jetzt nur bald et­was War­mes für den Ma­gen hät­ten. Was, darf man euch nicht an­se­hen?«

      Die bei­den Mäd­chen stan­den, von ih­ren Gäs­ten ab­ge­wen­det, in der dun­kels­ten Ecke des Zim­mers; erst als Ag­nes sie an­rief, kehr­ten sie Rosa große, lä­cheln­de Ge­sich­ter zu mit ro­ten Wan­gen, run­den, hell­grau­en Au­gen, brei­ten Lip­pen und sehr wei­ßen Zäh­nen. Brau­ne Zöp­fe leg­ten sich um die ku­gel­run­den Köp­fe, und die blau­en Ja­cken wa­ren fest über den ho­hen Bu­sen ge­knöpft. Eine der­be Fri­sche lag über die­sen Mäd­chen, und Rosa muss­te auch lä­cheln, als sie in die­se Ge­sich­ter schau­te, die noch feucht von Schnee­flo­cken wa­ren.

      »Das sind Mäd­chen, was?« rief Ag­nes be­geis­tert aus. »Wie die Manns­leu­te, wie die Sol­da­ten!«

      Stramm und auf­recht stan­den sie da, als trü­gen sie statt der Ja­cken Küras­se, und lie­ßen sich be­trach­ten.

      »Du bist Mar­tha«, fuhr Ag­nes fort, »das sah ich schon im Fins­tern, denn du bist die Grö­ße­re. Aber die Gre­the ist auch hübsch in die Höhe ge­gan­gen. Ja – ja, aber wie man Gäs­te emp­fängt, habt ihr doch nicht er­lernt; weiß es Gott! So geht doch, Feu­er in der Kü­che an­ma­chen, dass wir et­was War­mes be­kom­men, hur­tig!«

      Die Mäd­chen mach­ten kehrt, dass die Rö­cke saus­ten, und lie­fen hin­aus. Ne­ben­an in der Kü­che hör­te man sie mit schwe­ren Schrit­ten um­her­ge­hen, flüs­tern und ki­chern.

      »Vom Lan­de eben!« ent­schul­dig­te Ag­nes und schau­te sich im Zim­mer um. »Recht fein hat sich die Schwes­ter ein­ge­rich­tet, die­se De­cken – die­se Bil­der! Nicht wahr?«

      »Ja – sehr fein.«

      Das blau ta­pe­zier­te Zim­mer war von Ge­gen­stän­den über­füllt: Drei Kom­mo­den, vie­le braun po­lier­te Stüh­le mit ro­tem Über­zug, ein Sofa, vier Lehn­ses­sel, ein großer und zwei klei­ne Ti­sche. Über­all la­gen wei­ße, aus Baum­wol­le ge­knüpf­te Schutz­de­cken um­her. Klei­ne Fo­to­gra­fi­en in schwar­zen Rah­men hin­gen an den Wän­den – die einen mit Wa­chol­derzwei­gen, an­de­re mit Pa­pier­blu­men be­kränzt. End­lich – in der Ecke am Fens­ter – stand ein Glas­schrank, in dem sich al­ler­hand СКАЧАТЬ