Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ hät­te es nicht glau­ben sol­len. Nun ist’s aus. Na­tür­lich, was kann denn jetzt noch kom­men? Na­tür­lich.«

      Lurch wohn­te an dem Kir­chen­platz in ei­nem ho­hen, schma­len Hau­se. Vier Trep­pen hoch hat­te er für sich und sei­ne Mut­ter zwei Zim­mer und eine Kü­che ge­mie­tet, und die­se wa­ren der Schau­platz sei­ner zar­ten, kind­li­chen Sorg­falt. Er lieb­te sei­ne Mut­ter, er ent­sann sich kaum ei­ner Zeit, da er nicht für die alte Frau zu sor­gen ge­habt hät­te. Ihr eine ru­hi­ge Exis­tenz si­chern war stets die Haupt­auf­ga­be sei­nes Le­bens ge­we­sen. Erst als er zu glau­ben be­gann, sei­ne Lie­be zu Rosa sei nicht ganz hoff­nungs­los, erst da dach­te er an die Mög­lich­keit, sich von sei­ner Mut­ter zu tren­nen. Wenn Rosa es ver­lang­te, muss­te es ge­sche­hen, na­tür­lich, aber es wür­de doch hart für die alte Frau sein!

      Mit schwe­ren Schrit­ten stieg Lurch die fins­te­ren Trep­pen zu sei­ner Woh­nung hin­auf. Das ers­te Zim­mer war leer. Ein Licht­schein vom Nach­bar­fens­ter fiel in das zwei­te Zim­mer auf das Bett der al­ten Frau, und Lurch sah, wie je­den Abend, wenn er heim­kam, die große wei­ße Hau­be schon auf dem Kopf­kis­sen lie­gen. Sonst pfleg­te er wohl noch eine Wei­le auf dem Bett der al­ten Frau zu sit­zen und zu plau­dern. Er lieb­te es, wenn sei­ne Mut­ter ihre wel­ken Hän­de auf sein Knie leg­te und ihn mit mat­ter, schläf­ri­ger Stim­me über die klei­nen Er­eig­nis­se des Ta­ges aus­frag­te. »Wie hoch war die Ta­ges­lo­sung im Ge­schäft? Wen hast du auf der Stra­ße ge­se­hen?« Und die stets wie­der­keh­ren­de Fra­ge der letz­ten Zeit war ge­we­sen: »Hast du Rosa Herz ge­se­hen?« Wenn end­lich der Schlaf die alte Frau über­mann­te, stand Con­rad Lurch auf, steck­te im Ne­ben­zim­mer die Lam­pe an, ver­zehr­te flüch­tig – auf ei­ner Ti­sche­cke – sein Nacht­mahl und ver­tief­te sich in einen Ro­man. Die­se stil­len Nacht­stun­den, in de­nen die re­gel­mä­ßi­gen Atem­zü­ge der al­ten Frau und der Ton der Kir­chen­uhr al­lein die en­gen Räu­me be­leb­ten, die­se Stun­den wa­ren die er­eig­nis­reichs­ten in Lurchs ar­mem Le­ben. Den Kopf in die Hän­de ge­stützt, saß er oft gan­ze Näch­te über ei­nem Ro­man auf. Recht süße Er­zäh­lun­gen, in de­nen die Leu­te sich heiß lieb­ten, in de­nen sie wein­ten, große, edle Ge­füh­le aus­spra­chen, wa­ren ihm die liebs­ten. Trä­nen muss­ten ihm wäh­rend des Le­sens in den Au­gen bren­nen und die Hän­de kalt und kraft­los vor Er­re­gung wer­den. Erst wenn ihn die Au­gen schmerz­ten, leg­te er das Buch fort und be­gab sich zur Ruhe, mit den Ge­dan­ken noch in der schö­nen, er­eig­nis­rei­chen Welt des Ro­mans wei­lend. Und – wenn er so sin­nend im Bet­te wach­lag, das Ge­le­se­ne im­mer wie­der durch­le­bend, dann misch­te sich un­ter die Per­so­nen der Er­zäh­lung ein jun­ger Mann, von dem das Buch nichts wuss­te. Die­ser jun­ge Mann hat­te lan­ge Ge­sprä­che mit der Hel­din – be­zau­ber­te sie durch sei­nen Edel­mut. Es war eine Art Lurch – kein Zwei­fel! Und den­noch von Lan­ins dün­nem Kom­mis sehr ver­schie­den.

      Heu­te ging Lurch nicht zu sei­ner Mut­ter hin­über, son­dern stell­te sich im ers­ten Zim­mer an das Fens­ter und starr­te auf den fins­tern Kir­chen­platz hin­ab.

      »Con­ni – bist du’s?« frag­te die Mut­ter.

      »Ja – Mut­ter!« er­wi­der­te er.

      »Hast du die Lam­pe an­ge­steckt?«

      »Noch nicht.«

      »Im Ofen­rohr steht die Sup­pe.«

      »Ja, Mut­ter, ich weiß es.«

      »Gehst du heu­te zu Stei­ning? Heu­te ist Sams­tag.«

      »Vi­el­leicht. Ja – ich – ich den­ke wohl.«

      »Un­ter­hal­te dich gut, mein Kind.«

      »Ja – Mut­ter. Gute Nacht!«

      Die alte Frau wun­der­te sich dar­über, dass Con­ni nicht zu ihr ans Bett kam. »Er hat wohl Eile fort­zu­kom­men«, dach­te sie sich und schwieg. Er aber blick­te noch im­mer in die Nacht hin­aus.

      Der Tod? Lurch hat­te bis­her nur des­halb zu­wei­len an ihn ge­dacht, weil die Mut­ter auf ihn war­te­te. An sei­nen ei­ge­nen Tod hat­te er nie ge­dacht. Nun – plötz­lich – kam die­ser Ge­dan­ke – wie et­was Na­tür­li­ches, wie der not­wen­di­ge Ab­schluss ei­ner Exis­tenz, mit der Rosa sich nicht ver­bin­den woll­te… Je glück­lich ge­we­sen zu sein, ent­sann sich Lurch nicht. Vi­el­leicht sams­tags, wenn er be­trun­ken war? Doch, mein Gott, auch dann!… Sonst im­mer nur ge­drück­tes, freud­lo­ses Hin­krie­chen über das all­täg­li­che Tag­werk – – bis die Lie­be kam und sich in die­sem lee­ren Da­sein breit­mach­te, es gänz­lich auf­sog. Zur Qual aber wur­de sie, als sie greif­ba­re Ge­stalt an­nahm, als die Hoff­nung aus ihr ein un­wi­der­steh­li­ches Be­geh­ren mach­te, das an Con­rad Lurch nag­te, ihn pei­nig­te, wie Zahn­weh. Jetzt, da Rosa für im­mer ver­lo­ren war, muss­te das Ende kom­men. Nicht?

      Lei­se ging er an den Schrank sei­ner Mut­ter und tas­te­te, bis er das Schub­fach fand, in dem die An­den­ken an den Va­ter la­gen. Pfei­fen­köp­fe, Fe­der­hal­ter, ein Geld­beu­tel, ein Ra­sier­mes­ser – ja, das war’s! Lurch steck­te das Mes­ser in die Ta­sche sei­nes Über­rockes. Nun hät­te er ge­hen kön­nen, den­noch setz­te er sich auf einen Stuhl. Vi­el­leicht brauch­te es nicht zu sein. Sein Blick fiel auf den Kopf sei­ner Mut­ter, der re­gungs­los in den Kis­sen lag. Ja – die alte Frau, der wird es na­he­ge­hen. Wer wird mor­gen den Kaf­fee ma­chen? Je nun, sie wird die Magd von ge­gen­über ru­fen. Aber zu­recht­stel­len woll­te er ihr al­les. Er hol­te die Kaf­fee­kan­ne, die Spi­ri­tus­lam­pe, das Geld für den Bä­cker, da­ne­ben leg­te er den Schlüs­sel sei­nes Schreib­ti­sches. Dort konn­te sie noch ein we­nig Geld fin­den, das reich­te wohl hin, bis die alte Frau sich an die Stadt um Ver­sor­gung wen­den wür­de. Er trat an das Bett der Mut­ter und küss­te be­hut­sam die Spit­ze der Nacht­hau­be. – Jetzt muss­te er wirk­lich ge­hen, es war spät. Sach­te stieg er die Trep­pe hin­ab.

      Drau­ßen weh­te es ihm kalt ent­ge­gen. Er war müde, schläf­rig, zer­schla­gen, dar­um eil­te er, um end­lich Ruhe zu ha­ben. Da war die Kon­di­to­rei! Hin­ter zu­ge­zo­ge­nen Vor­hän­gen tob­te der Gers­ten­saft-Strauß. Aber Silt, Ap­fel­baum – sie alle er­schie­nen Lurch wie fer­ne, ver­bli­che­ne Ge­stal­ten, die er vor lan­ger Zeit ge­kannt hat­te, Bür­ger der farb­lo­sen Welt, in der auch er leb­te vor dem Kuss im Tröd­ler­hau­se. Das, was er jetzt vor­hat­te, war, sei­ner Mei­nung nach, ganz an­ders vor­nehm als die Wit­ze des Gers­ten­saft-Prä­si­den­ten.

      Vor Ro­sas Fens­ter blieb Lurch ste­hen. Es war dun­kel, aber die schwar­zen Glas­ta­feln hauch­ten auf ihn wie­der das schwü­le, hilflo­se Ver­lan­gen nie­der. Wü­tend nag­te er an sei­ner Un­ter­lip­pe und drück­te die Knö­chel sei­ner Hän­de an­ein­an­der. Als er end­lich wei­ter­ging, schluchz­te er – die Hän­de in den Rock­ta­schen, das Ge­sicht jam­mer­voll ver­zo­gen. Er eil­te im­mer mehr, er lief fast den Fluss ent­lang, durch ent­le­ge­ne, enge Gas­sen, bis er an ein nied­ri­ges, un­rein­li­ches Haus ge­lang­te. Aus den mit Kalk ge­trüb­ten Fens­ter­schei­ben schi­en ihm ein mat­tes, mil­chi­ges Licht ent­ge­gen, und über der Türe zeig­te ein Trans­pa­rent in ro­ten Buch­sta­ben das Wort »Bad«.

      Im СКАЧАТЬ