Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
isbn:
Lurch setzte sich in eine finstere Ecke, knöpfte seinen Überrock auf, nahm den Hut ab, legte die Hände flach auf die Kniescheiben und wartete geduldig. Er war wieder ruhig geworden, und während er dasaß, beseelte ihn nur ein festes Wollen – ohne Gedanken. Einer der Männer raffte sich auf, schlug klatschend mit der Hand auf den Tisch und lallte: »Und wenn die Julie morgen nicht Ausgang hat – dann reiße ich ihr den Kopf ab – ja.«
Bedeutungslos und nichtssagend klang Lurch das Wort »morgen« in die Ohren, wie irgendeine Redensart, die unser Nachbar im Coupé seinen Bekannten zuruft. »Grüßen Sie auch den Karl!« – Was ist uns Karl? Was war Lurch morgen? Ebenso wenig wie die Julie.
Die Badefrau kam und führte Lurch auf seine Nummer, ein enges Kabinett, in dem sich eine Wanne aus Weißblech, ein Tisch, eine Kerze in einem Messingleuchter, ein Stuhl und ein Spiegel befanden. »Danke«, sagte Lurch und schloss die Türe.
Ohne zu säumen, entkleidete er sich. Jedes Kleidungsstück, das er ablegte, klopfte er mit der Hand aus, faltete es zusammen und legte es auf die Fensterbank. Als er damit zu Ende war, schärfte er das Rasiermesser an den Ziegelsteinen des Bodens und stieg dann behutsam in das Wasser. Die Wärme tat ihm wohl; er streckte seine Glieder und rieb sie sanft mit der Hand. Eine behagliche Trägheit kam über ihn; schläfrig sah er die Flamme der Kerze an, die immer krausere Strahlen bekam. Seine Gedanken schweiften unklar und verworren in die Ferne, kamen jedoch stets auf denselben Punkt zurück; »nun kommt der Tod. Gleich muss er da sein – er kommt – kommt –, das ist er – ah –«. Das Wasser plätscherte. Lurch sah auf. Neben ihm lag das Messer. Er besann sich. Wie? Das war das Sterben also noch nicht gewesen? Den ganzen Weg hatte er noch zu machen. In der ungestümen Wut, mit der Schlaftrunkene alles fortzustoßen pflegen, was ihren Schlaf stört, ergriff Lurch das Messer und begann, gegen seinen dürren, bleichen Leib zu wüten.
Im Flur draußen hatte sich die Badefrau wieder auf die Bank gesetzt und schlief. Im Wartezimmer schliefen die zwei Männer vor ihren Bierflaschen, und durch die offene Haustüre schaute die kalte Reinheit der Mondnacht in den qualmigen Raum.
Fünftes Kapitel
Gegen Morgen erst hatte Agnes Rosa zu Bett gebracht, und ein tiefer Schlaf war über das arme Kind gekommen, aus dem sie erst spät am Vormittag erwachte.
Agnes, die auf diesen Augenblick gespannt gewartet hatte, ging sofort zu ihr und schlug vor, Rosa solle zu Bett bleiben, Tee trinken, ein Ei essen, sich warm zudecken. Rosa wies alles zurück, lächelte und antwortete mit klarer, ruhiger Stimme, sie wolle sich ankleiden und dann Tee trinken. Agnes möge nur so gut sein, im Wohnzimmer ein Feuer anzumachen, denn Rosa fror.
»Ja, ja«, erwiderte Agnes unsicher. »Ich meinte nur, es wäre besser, du bliebst liegen. Wenn ich krank bin oder mir sonst nicht recht ist, mein ich, im Bett, da ist’s am sichersten; da kommt mir nicht so leicht etwas nah, das mich kränken oder mir schaden könnte. Aber wie du willst.«
Es war, als habe Rosa während des langen, traumlosen Schlafes alle ihre Erfahrungen zusammengerechnet, denn die Summe stand ihr heute mit überraschender Deutlichkeit vor Augen. Keine Unklarheit, keine Hoffnung mehr, die gestalt- und ziellos im Herzen schläft. Heute sagte sich Rosa: »Ich muss fort.« Vielleicht hatte die Schank noch die bewusste Stelle zu vergeben. Der Vater sollte sobald als möglich mit ihr darüber sprechen. Mit selbständiger Willkür hatte Rosa ihr Leben verdorben, nun begriff sie, dass sie selbst ihm wieder irgendeine erträgliche Gestalt zu geben versuchen musste. Ein festes Ziel, ein greifbarer Zweck, das war das einzige, was sie jetzt ersehnte. Als sie ihrem Vater ihre ernste Stirn zum Morgenkusse bot, sagte sie: »Papa, setz dich her zu mir und hör mir, bitte, zu. Wir wollen sehr vernünftig sprechen.«
»Gewiss, Kind«, erwiderte Herr Herz und fügte hinzu, weil er glaubte, ein Scherz erleichtere jede Situation: »Und was für ein strenges Schulmeistergesicht du machst!«
»Oh, lache nicht, Papa! Ich habe allen Grund, ernst zu sein«, meinte Rosa, und während sie ihren Tee trank, erklärte sie: »Ich wollte dich bitten, zu Fräulein Schank hinüberzugehen – recht bald – morgen schon, um sie zu fragen, ob jene – Bonnenstelle, von der sie sprach, noch frei ist. Ich bin bereit, gleich abzureisen, wenn es nötig ist.«
»Warum denn?« fragte Herr Herz schnell. »Ist gestern etwas passiert?«
»Nein. Oder doch. Klappekahl teilte mir einiges – über Ambrosius Tellerat mit, das regte mich auf – und hat wohl auch zu meinem Entschluss beigetragen.«
Während sie sprach, tauchte sie Brotschnitte in den Tee und aß und trank mit Heißhunger. – Herr Herz blickte Agnes scheu an. Hatte diese vielleicht all das auch vorausgesehen? Kleinlaut versetzte er dann: »Warum willst du denn fort, liebes Kind?«
»Wir haben das schon besprochen«, erwiderte Rosa, ernst aufblickend, »und am Ende geht die Stelle verloren.«
»So ganz allein willst du mich lassen?« Der alte Ballettänzer verlor seine Fassung. Das fremde, gesetzte Wesen seines Kindes schnürte ihm das Herz zusammen. Rosa aber rückte nahe zu ihm heran, legte ihre Hand mit einer mütterlich überlegenen Bewegung an seine Wange und tröstete ihn. »Du darfst nicht so betrübt sein und mir das Herz schwer machen. Wir wollen uns zusammennehmen. Nicht wahr?« In ihren Worten lag wieder das Liebevolle, Kameradschaftliche, das er an seiner Rosa gewohnt war. »Du weißt es ja, dass ich fort muss. Wenn ich viel Geld verdient habe – dann komme ich zurück, und wir führen ein hübsches Leben, wir drei Alten, denn dann bin ich auch schon alt.«
Herr Herz lächelte, die Augen voller Tränen: »Wer weiß, mein Kind, ob du mich dann noch findest.«
»Doch!« erwiderte Rosa leise. »Da, wo man hoffen darf, muss man hoffen, nicht wahr? Wenn wir denken müssten, dass alles im Leben schlimm ausgeht, dass nichts so kommt, wie wir es wünschen, nein, das wäre zu hart! Du, Agnes und ich werden sehr lustige Leute sein.«
Agnes stand an der Türe, sie wandte jedoch Vater und Tochter den Rücken zu, sie mochte ihr Gesicht nicht sehen lassen. –
»Du gehst also morgen zu Fräulein Schank«, schloss Rosa und lehnte sich fröstelnd in die Sofaecke zurück. »Jetzt wollen wir СКАЧАТЬ