Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Читать онлайн книгу Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von Keyserling страница 68

Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ Was lau­fen Sie denn da her­um!« – »Ich ma­che mir Be­we­gung«, ant­wor­te­te Herr Herz. Ja, er mach­te sich sehr hef­tig Be­we­gung! Den Hut im Na­cken, den Über­rock of­fen, ging er mit Fie­ber­hast die Kies­we­ge auf und ab. Die grei­sen Au­gen­brau­en zuck­ten, und er sprach eif­rig mit sich selbst: »Nein, das habe ich nicht er­war­tet – das nicht! Ich mein­te, das Schlimms­te sei vor­über, nun kommt so et­was! Jahr um Jahr hat man ge­ar­bei­tet, um dem Kin­de eine Zu­kunft zu ver­schaf­fen – und al­les um­sonst!«

      Die Schan­de, das Elend, die er als Ko­mö­di­ant hin­un­ter­ge­würgt hat­te, sie ka­men, wie eine böse Krank­heit, bei sei­nem Kin­de wie­der zum Vor­schein. Rosa muss­te es bü­ßen, dass er – Herz – nicht von je­her ein or­dent­li­cher Bür­ger ge­we­sen war. – Zu­wei­len blieb er ste­hen, stemm­te einen Arm in die Sei­te – ver­such­te sich wie­der zu den leicht­fer­ti­gen Bal­let­tän­zer­an­schau­un­gen zu über­re­den: Was ist da­bei? Kann­te denn je­mand all die Ge­schich­ten, die Zer­li­ne aus­ge­führt hat­te? Ach, was die Leu­te nicht se­hen…! Und den­noch – den­noch – es war schreck­lich! Was soll­te er Rosa sa­gen. Er zürn­te ihr und war es doch so un­ge­wohnt, ihr zu zür­nen.

      Da­heim aber schmolz al­ler Zorn im über­großen Mit­leid da­hin vor der blas­sen Ge­stalt sei­ner Toch­ter. Rosa schau­te ih­rem Va­ter mit großen, angst­vol­len Au­gen ent­ge­gen und war­te­te, was er sa­gen wür­de. – Er je­doch ver­moch­te nichts zu sa­gen; beim ers­ten Wort wä­ren die Trä­nen ge­kom­men. Er küss­te Rosa auf den Schei­tel – strei­chel­te sanft ih­ren Arm.

      »Ar­mer Papa«, sag­te Rosa, ohne die Lieb­ko­sun­gen zu er­wi­dern, in­dem sie ru­hig sit­zen­blieb, die Hän­de im Schoß ge­fal­tet.

      »Lass es gut sein«, ver­setz­te Herr Herz mit be­ben­der Stim­me.

      »Habt ihr schon ge­ges­sen?«

      »Nein, Ag­nes war­tet.«

      Für die Fa­mi­lie Herz kam jetzt eine Zeit trü­ben, sel­ten un­ter­bro­che­nen Schwei­gens. Selbst Ag­nes fand nichts mehr zu sa­gen – von Ti­glau durf­te nicht ge­spro­chen wer­den. In den Zim­mern, die von der Ok­t­ober­son­ne mit nüch­ter­ner Klar­heit er­füllt wur­den, gin­gen die drei be­küm­mer­ten Men­schen still und in sich ge­kehrt ne­ben­ein­an­der her, und über einen je­den von ih­nen kam oft ein tie­fes Sin­nen, das ihn auf den Fleck, auf dem er stand, die Hand an der Ar­beit, die er eben ver­rich­te­te, fest­bann­te.

      Rosa emp­fand an­fangs nur un­nenn­ba­res Stau­nen, das war nicht mög­lich! An so et­was hat­te sie nie ge­dacht. Es war zu un­ge­heu­er­lich und er­reg­te in ihr eine un­kla­re, un­gläu­bi­ge Furcht. Zwar, in den Ro­ma­nen, von de­nen Fräu­lein Schank sag­te, dass sie Gift für je­des jun­ge Mäd­chen sei­en, da pfleg­te wohl ein ar­mes, blei­ches Weib mit ei­nem Kin­de vor dem vor­neh­men jun­gen Mann zu er­schei­nen, der ge­ra­de mit sei­ner Braut spa­zie­ren­geht. Also – so et­was war’s, was ihr be­geg­ne­te. Ein großes Un­glück, na­tür­lich! Sie stand aber in ih­rer kin­di­schen Un­be­hol­fen­heit da­vor und ver­such­te es sich da­durch klarzu­ma­chen, dass sie an die heim­lich ge­le­se­nen Ro­ma­ne dach­te.

      Ag­nes hat­te ihr an je­nem Mor­gen, sehr er­schro­cken, sehr er­regt, aber klar und bar ge­sagt: »Lie­bes Kind, mit dir steht es so und so.« Gut, es war ent­setz­lich! Den­noch hät­te Rosa gern mehr dar­über er­fah­ren. End­lich – ei­nes mor­gens – trat sie, tief er­rö­tend, zu Ag­nes in die Kü­che, schloss die Türe hin­ter sich und ver­an­lass­te ein lan­ges, halb­laut ge­führ­tes Ge­spräch, das ihr vie­les klar­mach­te.

      Wun­der­bar blieb es im­mer­hin!

      Stun­den­lang saß sie in ih­rer Kam­mer, sah den röt­li­chen Zwei­gen der Kas­ta­nie zu, wie sie sich sach­te auf dem Hin­ter­grun­de des hart­blau­en Him­mels hin und her wieg­ten, und dach­te nach: Also – ganz ein­fach – einen Men­schen soll­te sie zur Welt brin­gen, ein We­sen wie sie selbst, wie jene dort un­ten, de­ren Schrit­te zu ihr her­auf­tön­ten; nur dass die­ses We­sen ihr ge­hö­ren wür­de – ganz ihr, nicht wahr? So gut wie ihre Steck­na­deln und ihr Fin­ger­hut? Selt­sam! Und die­ses Ei­gen­tum wird es­sen und trin­ken und lie­ben und un­glück­lich sein wie sie – wie Am­bro­si­us –? Nein – schlecht und un­glück­lich soll­te es nicht wer­den! Es? – Was? – Wer war das? Ro­sas ar­mes Mäd­chen­hirn stand rat­los vor den großen Fra­gen des Le­bens. Sie schau­er­te in sich zu­sam­men. Sie fürch­te­te sich vor sich selbst! Ge­s­pens­tisch er­schi­en ihr der ei­ge­ne Kör­per, in dem so wun­der­ba­re Din­ge vor sich ge­hen soll­ten – er­schi­en ihr das ei­ge­ne Herz, das plötz­lich et­was zu ver­tei­di­gen und zu lie­ben be­gann, was gar nicht da war – was nie­mand kann­te. Nein, zu be­grei­fen war es nicht! – Sie ließ ih­ren Kopf auf das Fens­ter­brett sin­ken und wein­te.

      Aber in dem tie­fen Schmerz, der sie laut und lan­ge schluch­zen ließ, war et­was – kaum ge­ahnt und doch emp­fun­den – et­was wie Trost, et­was, zu dem ihr ver­armt und ver­ödet Le­ben hin­streb­te; et­was Rei­nes, Schö­nes, das ihr viel­leicht wer­den konn­te. So un­ver­stan­den die­ses Ge­fühl auch war, den­noch ließ es Ro­sas Trä­nen sanf­ter rin­nen.

Drittes Buch – Tiglau

      Erstes Kapitel

      An ei­nem trü­ben Mor­gen – Ende Ja­nu­ar – trat Rosa ihre Rei­se nach Ti­glau an. Ag­nes soll­te sie be­glei­ten, al­les dort ein­rich­ten und wie­der zu­rück­kom­men.

      Herr Herz war an die­sem Ab­schieds­mor­gen schweig­sam und tief be­küm­mert. Er konn­te nur im­mer wie­der sein Kind sanft strei­cheln – bald das Haar – bald die Schul­ter – bald den Arm – und un­zäh­li­ge Male »Mein al­tes Kind!« sa­gen.

      Als der Wa­gen vor dem Tor hielt und Ag­nes zur Ab­fahrt mahn­te, knie­te Rosa bei ih­rem Va­ter nie­der, ihm noch ein­mal Le­be­wohl zu sa­gen. Er nahm das Ge­sicht, das ihn so lie­bend an­lä­chel­te, wie nur Rosa es konn­te, in sei­ne bei­den zit­tern­den Hän­de, hielt es und schau­te es mit feuch­ten Au­gen an: »Du weißt«, sag­te er, »du und ich, wir ge­hö­ren zu­ein­an­der.« – »Ja – Papa!« – »Na­tür­lich, mein Kind, du – und ich.« Dann küss­te er sei­ne Toch­ter auf den Schei­tel.

      Als der Wa­gen fort­roll­te, wein­te der alte Mann un­ge­stört. Es sah ihn ja nie­mand. Frei ließ er die Trä­nen an den fal­ti­gen Wan­gen nie­der­rin­nen und schluchz­te ganz laut. Mög­lich, dass ein al­ter Bür­ger der Stadt so nicht hät­te wei­nen sol­len. La­nin hät­te es nicht ge­tan, hät­te das un­wür­dig ge­nannt. Was hat­te es aber dem ar­men Bal­let­tän­zer genützt, ein wür­di­ger Bür­ger zu sein? Jetzt saß er ein­sam in sei­ner Stu­be und sehn­te sich nach sei­nem Kin­de. Da woll­te er we­nigs­tens so un­bän­dig wei­nen, wie er es zu­wei­len da­mals tat, als er noch ein un­wür­di­ger Bal­let­tän­zer war und Zer­li­ne ihn quäl­te.

      Rosa und Ag­nes muss­ten den gan­zen Tag über fah­ren und konn­ten erst mit der Dun­kel­heit in Ti­glau ein­tref­fen. Als sie durch die Stadt fuh­ren, steck­te Ag­nes den Kopf zum Wa­gen­fens­ter hin­aus und murr­te: »Aha! Da schaut die Sal­ly La­nin zum Fens­ter hin­aus. СКАЧАТЬ