Название: Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
Автор: Gustav von Bodelschwingh
Издательство: Public Domain
Жанр: Зарубежная классика
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Mein Weg ging über Kirchheim unter Teck nach Welzheim. Dort traf ich mit meinem Freunde Hauser zusammen, und hier wurde er bei Gelegenheit eines Missionsfestes von Inspektor Josenhans ordiniert. Von da ging es weiter nach Fellbach, dem Heimatsort meines Freundes. Fellbach war damals einer der Orte im Württemberger Lande, an welchem das christliche Gemeinschaftsleben grünte und blühte. Die Fellbacher hatten ein eigenes Vereinshaus gebaut, wo sie unter sich ihre Andachtsstunden hielten, doch so, daß sie auch gern ihren trefflichen Pfarrer zu sich einluden.
Ehe wir in diesem Vereinshaus den Abschied meines Freundes feierten, machten wir noch eine gemeinsame Fußwanderung durch die Dörfer in einem größeren Umkreise von Stuttgart, die der Mission besonders zugetan waren. Überall wurden wir von den lieben Bauersleuten beherbergt und mit großer Liebe aufgenommen und verabschiedet. Überall steckten die Leute auch dem abziehenden Freunde Geld für seine Reise nach Indien in die Hand, und ich konnte es nicht immer abwehren, daß sie auch mir eine Gabe aufpreßten. „Sie werden es schon brauchen,” sagten sie; denn ich hatte immer noch meinen grauen Reisekittel an. Auf diesem Wege kam ich auch nach Calw, wo ich den merkwürdigen alten Dr. Barth, den Leiter des Calwer Verlages, kennen lernte.
Die Reise nach Calw, auf der Inspektor Josenhans uns begleitete, ist mir in besonders lebendiger Erinnerung geblieben. Denn Josenhans erzählte unterwegs von dem wunderbaren Gesicht, das er einmal in Basel gehabt habe. Er sei etwas leidend gewesen, in fieberhaftem Zustande, aber völlig wach. Plötzlich fangen vor seinen Augen die Herrlichkeiten der Stadt, namentlich die Kaufläden von Basel, an zu tanzen und stürzen nacheinander in den Abgrund. Dann sieht er, wie die Türme der Stadt zu wanken anfangen und zusammenbrechen. Jetzt sinken auch die Berge des Schwarzwaldes, des Jura und der Alpen in sich zusammen. Vor sich sieht er nichts als eine unabsehbare Ebene. Er macht sich auf und läuft über die Ebene weg auf Stuttgart zu. Da begegnet ihm sein Sohn, ein zwölfjähriger Knabe, (er saß bei uns im Wagen, während sein Vater dies erzählte) und sagt: „Vater, komm! Sie warten schon alle.” Und wie er aufblickt, sieht er eine unermeßliche Schar, die niemand zählen kann, auf einem weiten, weiten Felde stehen. Aber sie sind nicht alle gleichartig: die Freude auf den Gesichtern der einen ist durcheinandergemischt mit dem Schrecken auf den Gesichtern der andern. Da tritt einer auf – Josenhans erkennt in ihm den Kirchenvater Augustinus – und ruft mit gewaltiger Stimme: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und eine ungezählte Schar macht sich strahlenden Antlitzes auf und folgt ihm. Es sind die Gläubigen aus der katholischen Kirche. Aber eine ebenso große Schar wird blaß und grau, schrumpft zusammen und verkriecht sich in die Löcher der Erde. Jetzt tritt ein zweiter auf: es ist Dr. Martin Luther. Und Luther ruft wieder überlaut: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und wieder folgt ihm eine Schar, die niemand zählen kann, mit erhobenen Häuptern. Aber wieder schrumpft eine andere ebenso große Schar zusammen und verkriecht sich in die „Mauselöcher”. Dann tritt Calvin auf und erhebt seine Stimme; und noch einmal wiederholt sich dasselbe wie bei Augustin und Luther. Jetzt aber stehen sie alle still und blicken unverwandt gen Osten. Da mit einemmal wird es hell wie ein Blitz vom Aufgang bis zum Niedergang – . In diesem Augenblick fiel der Sohn des Inspektors, der der Erzählung atemlos zugehört hatte, seinem Vater laut schluchzend in die Arme, sodaß dieser große Mühe hatte, ihn wieder zu beruhigen, und seine Erzählung nicht zu Ende brachte; aber wir wußten ja, wem die ungezählten Scharen entgegengegangen waren.
Nach Fellbach zurückgekehrt, rüsteten wir uns auf den Abschied meines Freundes. Am letzten Abend versammelten sich noch einmal alle gläubigen Christen Fellbachs in dem Versammlungshause. Verschiedene der alten Väter traten auf und gaben dem scheidenden jungen Missionar einen Gruß aus dem Worte Gottes mit auf den Weg. Andere beteten aus tiefbewegtem Herzen. Er selbst mußte ihnen ebenfalls ein Abschiedswort sagen, und ich auch. Dann legten sie noch mehrere hundert Gulden Reisegeld zusammen, und beim Hinausgehen aus dem Saal war viel Schluchzens.
Am andern Morgen wanderten wir zu Fuß nach Stuttgart. Bis zur Anhöhe über dem Dorf gaben uns noch viele das Geleit. Dann wanderten mein Freund und sein Vater, sein Schwager und ich allein weiter. Die Mutter war schon längst gestorben. Auf dem Bahnhofe in Stuttgart stand der Zug zur Abfahrt nach Basel bereit. Der alte Vater hielt sich tapfer bis zur letzten Umarmung und dem letzten Kuß, den er seinem Gottfried gab. Aber in dem Augenblick, als das Antlitz des Sohnes, der am Wagenfenster stand, entschwand, wandte sich der alte Mann zu mir, fiel mir um den Hals und schluchzte: „Gottfried, mein Sohn, mein Sohn, warum hast du mich verlassen?”
Von Stuttgart aus wanderte ich zunächst dem Hohenstaufen zu. Von da hätte ich es nicht weit bis zu dem damals schon so berühmten Boll mit seinem Pfarrer Blumhardt gehabt. Aber ich hatte eine Abneigung, solche Orte zu besuchen, die gewissermaßen als Wallfahrtsorte galten und zu denen die Menschen vielfach mehr aus Neugierde als eines inneren Bedürfnisses wegen gehen. Doch während ich die einsame, kahle Berghöhe des Hohenstaufen hinaufkletterte, zog ein schweres Gewitter herauf. Ich sah von oben schnell nach allen Seiten in das schöne Schwabenland hinein und eilte dann bergab in der Hoffnung, das Städtchen Göppingen noch vor Ausbruch des Gewitters zu erreichen. Aber das Unwetter ereilte mich unterwegs in seiner vollen Wut. Ich wurde durch und durch naß und hielt es nun für besser, geradezu vorwärts zu marschieren, bis ich vor der Tür von Bad Boll stand. Der liebe Vater Blumhardt nahm sich dann auch des wider Willen zu ihm getriebenen Studenten aufs väterlichste an, und ich gewann solches Zutrauen zu ihm, daß ich ihm mein ganzes Herz ausschütten konnte. Ich blieb einige Tage bei ihm, die mir von großem, bleibendem Segen geworden sind und unser Gemeinschaftsband knüpften bis an das Ende der Tage.
Dann ging es über Ulm und Augsburg, wo die prachtvollen Dome und Kirchen besucht wurden, wieder zurück in die freundliche Musenstadt an der Regnitz, wo freilich aus dem Studieren nicht mehr viel wurde, da ich in diesem sehr heißen Sommer viel an Kopfweh, Nasenbluten und Schlaflosigkeit litt und schließlich so von Kräften kam, daß ich für drei Wochen das Studentenkrankenzimmer in der Universitätsklinik aufsuchen mußte.
Nach Schluß des Semesters gab ich mir mit meinem lieben Freunde Riggenbach in Würzburg ein Stelldichein. Er hatte sich entschlossen, als Pastor zu den Deutschen nach Nordamerika zu gehen, und wir beide wollten die letzten Tage vor seinem Abschied noch miteinander verleben. Wir suchten zunächst den Pastor Fabri auf, den späteren Inspektor des Barmer Missionshauses, der mich schon in Erlangen besucht hatte. Wir blieben einige Tage in dem kleinen lieben Pfarrdörfchen, und Fabri gewann unser Herz durch seine äußerst anregenden Gespräche über die tiefsten Fragen des Reiches Gottes. An Leib und Seele erfrischt, zogen wir dann weiter dem Norden zu. Wir wanderten viel zu Fuß, wie einst in den schönen Schweizer Bergen, und es war mir von großem Segen, zu erleben, mit welcher Einfalt und Treue mein Freund abends und morgens eine Stelle aus der Heiligen Schrift vornahm, sie mit wenigen Worten auslegte und dann niederkniete zum Gebet. Wie war man für den ganzen Tag dann gestärkt und erquickt, und wie schön schlief’s sich abends ein! Es gehört gewiß mit zum Köstlichsten, was man auf Erden haben kann, mit einem solchen Freunde durchs deutsche Vaterland zu wandern.
Unsere Pilgerschaft ging das Lahntal hinauf zu meiner Schwester Sophie, die in Berleburg an den Landrat von Oven verheiratet war, dann zu meiner lieben Mutter nach Velmede und von da nach Bremen, wo wir bei dem Besitzer des Auswandererschiffes, das mein Freund benutzen wollte, die herzlichste Aufnahme fanden. Der liebe Pastor Mallet stand noch in ungebrochener Kraft, und die Kanzel, auf der später Schwalb, mein Studiengenosse von Basel her, den Unglauben verkündete, hatte damals noch der treffliche Treviranus inne. Bei Mallet gingen wir noch einmal gemeinsam zum heiligen Abendmahl. Andern Tages geleitete ich meinen Freund nach Bremerhaven und von da noch ein Stück auf dem Auswandererschiff in die See hinaus, von wo ich über und über seekrank auf dem Lotsenboote wieder in den Hafen gelangte. Dann ging es zur lieben Mutter nach Velmede.”