Oliver lachte und seine blauen Augen funkelten.
„Schon mal ein Punkt für ihn“, dachte Miriam erleichtert. Laut sagte sie: „Ich erlös dich aus der Pein. Erzähl doch mal, was du für Hobbys hast.“
Oliver lehnte sich zurück. Wieder ein nervöser Griff zum Goatie. Der Bart war so kurz, was konnte man da noch richten? Und wen machte es nervös, über seine Hobbys sprechen zu müssen?
„Warte mal ab, bis du an der Reihe bist“, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. „Hexenkrimis lesen und bei Conventions in Korsett und Zylinder auf der Bühne herumtanzen sind auch nicht so die aalglatten Hobbys, mit denen du beim ersten Date ohne Nachfragen punkten kannst.“ Mit einem leichten Grinsen stellte Miriam fest, dass sie, wenn sie einen Bart gehabt hätte, diesen vermutlich allein bei dem Gedanken daran auch nervös kraulen würde. Verspätet merkte sie, dass Oliver ihr schon die ganze Zeit etwas erzählte.
„Und wenn ich genug zusammenhabe, kann ich mich an die Restaurierung machen“, sagte er gerade, während er nervös die Flasche mit der Sojasauce in Kreisen über das Tischtuch schob.
Miriam nickte wissend. „Schön.“ Verflixt, was war das Thema?
Oliver beugte sich eifrig näher zu ihr über den Tisch. „Als du geschrieben hast, dass du manchmal Reenactment machst, habe ich gehofft, dass du es spannend finden könntest. Und, was meinst du, ist das ein Hobby, mit dem du dich anfreunden könntest?“
„Uhm …“, Miriam dehnte das Wort. Meine Güte, wo waren sie gerade thematisch? Und Reenactment war nicht so ganz das treffende Wort für die Tanznummer, die sie mit ihren Bandkollegen bei Conventions aufführte. Spaß bis der Arzt kommt mit einem Hauch Goth und Victoriana träfe es schon eher. „Äh“, stotterte sie. „Vielleicht?“
„Die Frühlingsrollen für Sie“, erlöste Mei sie aus ihrem Dilemma. Die Bedienung stellte mit Schwung eine Platte vor Oliver ab. Die Vorspeise sah toll aus: Ein Dutzend winzige knusprige Frühlingsrollen lagen auf einem üppigen Salatbett, in dem Wasserkastanien mit der leichten Honigvinaigrette um die Wette glänzten. Sie waren bestimmt schön knackig.
Erwartungsvoll sah Miriam auf. „Und für mich?“
„Wie gewünscht die Drachenrollen“, flötete Mei und hielt Miriam einen Teller hin. Noch war er zu hoch, als dass Miriam hätte darauf schauen können, aber Oliver, der einen Kopf größer als sie war, sah plötzlich besorgt aus.
Ein Kellner rief Mei lauthals aus Richtung der Küche. Mei stellte flugs den Teller vor Miriams Nase ab und eilte im Laufschritt zurück in die Küche.
Oliver deutete mit den Essstäbchen auf den Teller. „Wenn du das lieber nicht kosten möchtest, kannst du von mir was abhaben. Ich fand, ‚Drachenrollen‘ klang auf der Karte so toll, aber …“ Er schüttelte sich.
Miriam sah auf ihren Teller hinab. Auweia. Der erste Anblick erinnerte an abgetrennte Gliedmaßen, die vor Maden wimmelten. Ihr Gehirn übersetzte tapfer den widerlichen Anblick in akzeptable Zutaten: Die beiden dicken Würste bestanden vermutlich aus rohem Glasnudelteig, der beim Nasswerden transparent wurde. So gab er den Blick frei auf die Füllung, mit der die Rollen bis zum Bersten vollgestopft waren. Die „Maden“ waren Meeresfrüchte, Shrimps und anderer Kleinkram, in winzige Stückchen gehackt. Kleine feuerrote Tentakel zogen sich unter der glasigen Hülle entlang. Der Rest der Füllung bestand aus allerlei Gemüse in grellgelben und sonnenuntergangsroten Farben und ein paar grob gehackten grünen und violetten Kräutern. Vermutlich war das Violette Thai-Basilikum, oder? Miriam hatte keine Ahnung, ob der violett war, aber was sollte es sonst sein?
Sie schluckte. Es nervte sie, wenn Leute Essen ablehnten, das sie nicht wenigstens einmal gekostet hatten. Da konnte sie ja jetzt nicht den Teller zurückgehen lassen, auch wenn es zugegebenermaßen recht widerlich aussah.
„Ich bin mutig“, sagte sie mit einem schiefen Grinsen zu Oliver.
Er nickte beeindruckt und knabberte noch eine von seinen Frühlingsrollen. „Respekt. Ich würde kneifen.“
Das würde sie auch gern, aber Miriam stach mit dem Messer in die Rolle, um sich ein Stück abzuschneiden. Mit einem Seufzen sackte die Wurst in sich zusammen. Miriam schluckte und säbelte an der Füllung und der überraschend zähen Hülle herum. Zum Glück bewegten sich die Tentakel tatsächlich nicht. Bestimmt irgendeine kleine Oktopus-Art. Während Miriam darüber nachdachte, in welchem Meer wohl ein feuerroter Oktopus zu Hause war, häufte sie alles auf die Gabel. Schnell schob sie sich diese in den Mund, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Ein Feuerwerk aus Aromen explodierte auf Miriams Zunge. Mhmm, ganz wunderbar. Für ein paar Sekunden genoss sie den Geschmack — bis die Schärfe zuschlug. Klar, die Dinger hießen ja auch Drachenrollen.
Unter Tränen stieß sie hervor: „Sind die scha-a-arf.“
Oliver drückte ihr hilfsbereit ihr Wasserglas in die Hand. „Aber wie schmeckt’s?“
Miriam setzte das Glas an, aber noch ehe sie einen Schluck genommen hatte, ließ die Schärfe genauso plötzlich nach, wie sie aufgetreten war.
Verdutzt setzte Miriam das Glas ab. „Lecker, wirklich.“ Sie häufte schon die nächste Gabel voll Essen. „Möchtest du kosten?“
„Nee, lass mal.“ Oliver wehrte mit einem Lächeln ab. „Hauptsache, dir schmeckt’s.“
Miriam war jetzt gewappnet und ließ sich vom nächsten Schärfe-Angriff nicht überwältigen. Wenn man die Augenblicke von Feuer im Rachen ignorierte, waren die Drachenrollen wirklich richtig lecker. Gabel um Gabel voll Haut und Füllung verschwand in Miriams Mund.
„Nein!“ Mei tauchte plötzlich mit einem Aufschrei neben ihr auf und packte Miriams Handgelenk, sodass die Gabel voll Füllung klappernd auf den Teller fiel. „Ein Versehen!“, rief sie laut, ganz außer sich. „Falsche Drachenrolle!“
Miriam blinzelte überrascht. Für einen Moment verschwamm das Restaurant vor ihren Augen. Sie hatte nicht das Gefühl, ohnmächtig gewesen zu sein, aber von einer Sekunde auf die nächste schwebte Olivers Gesicht direkt vor ihr und er griff besorgt nach ihren Händen. „Ist alles okay? Oh nein, du bist leichenblass!“
Von der anderen Seite beugte sich eine ältere Chinesin über Miriam. Ihre grauen Haare waren zu einer Kurzhaarfrisur geschnitten und fielen ihr in die eisgrauen Augen.
Mei rang die Hände. „Das Gericht war nicht für Sie bestimmt, Verzeihung. Falsche Drachenrolle. Alles in Ordnung?“
„Verzeihen Sie Meis Fehler“, sagte die alte Chinesin. „Darf ich Ihnen eine andere Vorspeise bringen?“ Sie zischte Mei etwas zu und das Mädchen duckte den Kopf.
„Verzeihung, Mama Wu“, flüsterte sie mit vor Furcht bebender Stimme, „Verzeihung, Verzeihung.“
„Es ist doch alles in Ordnung“, sagte Miriam energisch. „Es war wohl nur etwas zu scharf.“
„Sie haben nur wenig gegessen, was für ein Glück“, flüsterte Mei und zog Miriam den Teller weg.
„Wenig?“ Die Frau, die Mei als Mama Wu tituliert hatte, schüttelte den Kopf. „Fast eine ganze Drachenrolle!“ Sie legte СКАЧАТЬ