„ … andere bemühen sich ein Leben lang …?
„Ja.“
„Warum sagst du sowas?“
„Weil Kinder ein Geschenk sind … das Größte …“
Jule wird jetzt echt unprofessionell. Und wütend. Und sie riskiert, dass die alte Hexe ihre Zustimmung nachträglich zurückzieht. Dass dieses ganze Interview jetzt gelaufen ist. Aber Jule muss es einfach sagen. Sie muss Käthe unterbrechen und ihre Frage nochmal stellen. Diesmal mit der richtigen Betonung:
„Warum sagst DU sowas?!“
Käthe zuckt zusammen. Lächelt kurz dieses komische Flacker-Lächeln, das Jule schon am Anfang nervös gemacht hat. Es fühlt sich an, wie das Zischen einer Zündschnur vor der Explosion. Wie das Knacken, bevor die Leitersprosse bricht.
Das Lächeln, das den Irrsinn ankündigt.
Zum Kotzen eklig.
Käthe weicht Jules Blick aus. Zupft an ihren erdigen, grünen Gärtnerhandschuhen rum, die sie nie auszieht.
„Ich war eine gute Mutter. Wenn du das meinst.“
Jule dreht sich weg. Steckt den Rekorder ein und Schluss. Das muss sie sich echt nicht geben. Der Tante auch noch zuhören, wie sie sich jetzt irgendwie rechtfertigt. Und das machen sie alle. Dazu haben sie im Knast die Zeit. Sich auszudenken, dass alles in Wirklichkeit ganz anders war.
In jedem Gefängnis lauter Unschuldige und Opfer.
„Ich muss los.“
Käthe hält sie fest. Am Ärmel. Käthe kommt ganz nah an Jules Gesicht.
Es riecht nach Feuchtigkeit und Dünger und Erde.
„Sie waren alle schon tot.“
Jule weiß, dass das nicht stimmt. In den Zeitungen stand damals, dass mindestens zwei von den vier Babys noch gelebt haben, als Käthe sie erst im Garten – und die restlichen dann im Blumenkasten verbuddelt hat.
In den ganz dunkeln Augenblicken im Kinderheim hat Jule an solche Geschichten gedacht. Und sie kam – obwohl sie damals erst sieben war – zu dem Ergebnis: Lieber keine Eltern, als Monster.
Monster-Käthe.
Da steht sie vor Jule und redet und redet und der Tonfall wird immer weinerlicher.
Dass sie nie gesunde Kinder bekommen konnte. Dass sie sich so sehr welche gewünscht hat. Dass sie extra immer verschiedene Männer ausprobiert hat. Weil man das auch im Garten so macht, wenn’s schief geht. Das Saatgut wechseln.
Es ging nicht. Wieder und wieder.
„Dann habe ich versucht, sie einzupflanzen.“
Jule hat mal kurz Probleme mit dem Luftholen.
„ … einzupflanzen …?!“
„Ja. Ich habe gehofft, dass Mutter Erde das hinkriegt, was mein Körper nicht schafft.“
Okay, der erste Preis für den beklopptesten Irren geht … mit weitem Vorsprung … an Käthe Heuer. Herzlichen Glückwunsch.
Jule versucht, sich loszureißen. Aber Käthe hält sie fest. Woher nimmt diese magere Olle so viel Kraft?
„Ich habe auch immer gegossen und gedüngt. Aber es hat nicht funktioniert. Aber was sollte ich machen?“
Erwartet sie darauf eine Antwort? Eher nicht. Denn Käthe redet weiter: Sie erzählt, dass sie immer alles gut gekonnt hat, was mit Pflanzen zu tun hat. Dass es einen Versuch wert war.
Und dass sie nicht verrückt ist!
Nein, nein. Eine Menge Leute pflanzen ihre Babys ein. Tot oder lebendig. Das hat schon beim ‚Friedhof der Kuscheltiere‘ total gut funktioniert. Super-Idee!
Aber Käthe ist immer noch nicht fertig.
„Ich bin geistig gesund. Du bist der Beweis.“
Jule wird schwindelig. Ihr wird klar, dass das alles hier kein Zufall ist. Dass die vielen Fragen nach ihrem Privatleben und ihrer Kindheit der Grund für dieses Interview sind. Käthe hat sie ausgesucht. Um Jule was genau zu sagen?
„Du bist der erste Versuch. Aber du warst keine Aussaat. Und ich dachte, du gehst nicht auf. Sonst wäre ich doch nie weggezogen. Wenn ich gewusst hätte, dass du doch noch was wirst.“
Käthe sieht Jule liebevoll an. So liebevoll, wie das eben bei einer vierfachen Kindsmörderin so geht. Die Finger im Gartenhandschuh streicheln Jules Wange.
„Und wunderschön bist du geworden.“
Jule fühlt sich nicht gut. Der Joghurt von heute früh steigt zusammen mit dem Müsli ihre Speiseröhre hoch.
Und als Jule schreien will … als sie sich losreißen will und Hilfe holen …
… da rechnet sie. Jule rechnet nach. Wie alt sie jetzt ist. Wann Käthe in dem Haus mit Garten gewohnt hat. Dann bezieht sie noch die wenigen Details mit ein, die sie über die Umstände ihres Auffindens weiß. Baby Jule wurde von einem Unbekannten vor die Polizeiwache gelegt. In einer Decke. Mit dicken Erdbrocken daran.
Scheiße!
Nicht dass Jule die Nummer jetzt glaubt. Dass sie ernsthaft glaubt, ein Spaziergänger hätte sie in einem verlassenen Beet gefunden.
Aber …
„Ich bin dein untoter Baby-Zombie?! Das ist es, was du denkst?“
Käthe schüttelt mütterlich den Kopf.
„Sei nicht albern.“
Jule schweigt. Sieht sie an. Und dann:
„Du bist natürlich nicht untot. Du bist so lebendig wie mein Efeu. Und meine Lilien.“
Jule nutzt die Gelegenheit. Käthes Griff hat sich gelockert und Jule kann zwei, drei Schritte rückwärts gehen. Abstand. Hauptsache Abstand.
Aber Käthe kommt ihr nicht nach. Sie steht da – und aus dem Flacker-Lächeln, das ihr runzeliges Puppengesicht durchrüttelt hat, ist ein breites Grinsen geworden.
„Was willst du von mir?“
„Kannst du dir das nicht denken?“
„Dass ich dir ab jetzt Karten zum Muttertag schreibe oder was?!“
Käthe schüttelt den Kopf:
„Du musst doch bei der Vorbereitung auf unser Interview auch etwas über Gärtner gelernt haben. Wie die so ticken. Dass sie immer sehen wollen, wie schön die Saat aufgegangen ist.“