„Sie ist nicht krank!“
„Nein. Sie ist nicht krank, sie ist verstört.“
„Meine Tochter ist nicht verrückt!“ Jetzt hatte der Schnauzer ganz sicher gezittert. Doch die Frau wich nicht zurück.
„Ach, ist sie nicht? Wie oft hast Du ihr denn schon verboten, sich in dieser Bruchbude herumzutreiben? Warum kehrt sie denn immer wieder dorthin zurück?“ Paula schlug sich die Hände über die Ohren, doch die Stimme der Frau schraubte sich immer höher. Schrill zwangen sich die Worte zwischen den zusammengepressten Fingern des Mädchens hindurch. Tränen strömten aus den weit aufgerissenen Augen des Kindes. Ach, könnte sie doch nur bei Mama sein! Sie sprang auf, warf sich auf ihr Bett, zog sich die Decke über den Kopf und schluchzte laut. Sie würden ihr Stubenarrest aufbrummen, sie einsperren, damit sie nicht zu Mama gelangen konnte. Das konnte sie nicht zulassen.
Sie wischte ihr verschmiertes Gesicht an der seidenen Bettdecke ab und stand leise auf. Ihr Reiseköfferchen stand in der Kammer neben dem Dienstbotenzimmer, da war kein Rankommen, also musste es anders gehen. Sie warf einige Kleidungsstücke auf das Bett, zwei Bücher, Elise und das silberne Armband, das die Großmutter ihr geschenkt hatte. All das wickelte sie in einen großen Schal, dessen vier Ecken sie zuknotete, um eine Tasche mit Halteschlaufe zu formen. Ihr Blick fiel auf die Fotografie auf ihrem Nachttisch, sie hielt kurz inne. Konnte sie Papa alleine lassen? Er hatte doch die Frau. Er brauchte sie nicht. Mama aber. Mama brauchte sie. Wie die Luft zum Atmen, sagte sie immer. Das unhandliche Bild in seinem schweren Rahmen konnte hierbleiben.
Paula griff nach ihrem roten Wollmantel mit den handgeschnitzten Hornknöpfen, warf sich ihre improvisierte Tasche über die Schulter und ließ sich langsam aus ihrem Fenster zu den Rosenrabatten hinunter, an denen sie sich hinab hangelte, um den Boden zu erreichen. Die Dornen stachen tief in ihre weichen Handflächen und zerkratzen ihr Beine und Gesicht, doch Paula bemerkte das kaum. Sobald ihre Füße den Boden berührten, rannte sie wie von Hunden gehetzt durch den gepflegten Park, in dem sie früher so gerne gespielt hatte. Sie schlich um das Gärtnerhaus herum, sorgsam darauf bedacht, nicht gesehen zu werden – niemand sollte ihretwegen Ärger bekommen – und machte sich dann daran, mit Hilfe der alten, schiefen Weide die große Mauer zu überwinden, die das Grundstück von der Außenwelt trennte. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Flussufer hinunter. Dort folgte sie dem alten Treidelpfad, der sie ungesehen an den Grundstücken der Nachbarn vorbeiführte. Erst am Ende der Straße stieg sie den kleinen Abhang wieder hinauf, schimpfte über die fiesen Brombeeren, die ihr die Strümpfe zerrissen, und näherte sich dem alten Haus zum ersten Mal durch den verwilderten Garten. Der Duft der wilden Rosen machte ihr Herz wieder leicht. Sie rannte über die zerbrochenen Steinplatten zu der nur noch zur Hälfte existierenden Terrasse und schob sich dort sehr vorsichtig durch die scharfen Überreste der Glastür.
„Mama! Mama! Ich bin wieder da! Mamaaaa …“ Paula konnte die geliebte Stimme singen hören. Eilig und ohne darauf zu achten, wohin sie ihre Füße setzte, jagte sie durch den Salon, sprang über den am Boden zersplitterten Kronleuchter und wand sich unter den in alle Richtungen stehenden Holzbalken der herabgestürzten Decke hindurch. Durch die Trümmer, die einstmals wohl die Zwischendecke gebildet hatten, konnte sie das einfallende Licht der großen Fenster im Kaminzimmer sehen. Dort würde ihre Mutter auf sie warten. Paula nahm all ihren Mut zusammen und sprang.
Sechs Schimmel hatten die schwarze Kutsche gezogen, in welcher der weiße Sarg noch kleiner wirkte, als er wirklich war. Sechs Schimmel mit schwarzen Federbüschen am Geschirr, genau wie bei ihrer Mutter. Über der Grube stand auf einem Holzgestell ein riesiger Kranz aus weißen Rosen, genau wie bei ihrer Mutter. In seinen großen Händen mit den glänzenden schwarzen Handschuhen wirkte ihre Puppe winzig. Franz legte Elise sanft auf den blumenbedeckten Sarg, dann brach er zusammen.
„Eine kleine Dickmadame
Fuhr mal mit der Eisenbahn
Eisenbahn die krachte
Dickmadame die lachte“
Paulas Hände tanzten wie kleine Vögel durch die Luft, trafen Mamas Hände im perfekten Moment, während ihre Stimme quietschend immer lauter und schneller wurde. Mama hielt mit, sang lachend den Reim, bis Paulas Zunge sich verknotete und Mamas Hände die ihren in der Luft fingen – und hielten. Strahlend warf das achtjährige Mädchen sich in die Arme der dunkelhaarigen Frau und beide lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen.
BRIDA ANDERSON schreibt Urban Fantasy und Steampunk.
Wenn sie nicht gerade Feenwesen oder Adrenalin-getränkte Abenteuer erfindet, kann man Brida auf einer Matte beim Jiu Jitsu finden oder beim Versuch, ihre zwei Kinder und einen arabischen Kobold – der hartnäckig seine Tarnung als Kätzchen beibehält – unter der glühenden Sonne Katars zu zähmen.
Lest mal rein in Dornen-Spiele, den ersten Band von Bridas Urban Fantasy-Serie Astoria Files (http://bit.ly/AstoriaFiles).
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Mutter der Drachen
„Und dazu nehmen wir jeder ein Gläschen Sake und ein Glas Wasser“, beendete Oliver seine Großbestellung.
Miriam klappte den Mund wieder zu. Offenbar war es ganz unerheblich, was sie beim Chinesen geordert hätte. Oliver, ihr Blind Date für heute Abend, hatte in Windeseile eine Bestellung für sie beide heruntergerattert. Noch war Miriam mehr amüsiert als verärgert. Oliver hatte Gerichte bestellt, die sie gern mochte oder immer schon mal probieren wollte, also war sie ihm nicht ins Wort gefallen.
Wenn sie Oliver mit Blind Dates der Vergangenheit verglich, schnitt er bis jetzt ganz gut ab. Er war pünktlich, hatte ein nettes chinesisches Restaurant ausgesucht, das Miriam noch nicht kannte, und, was Miriam viel wichtiger fand, er sah tatsächlich so aus wie sein Foto im Datingportal – etwa Ende dreißig, mit schulterlangen braunen Haaren, einem hübschen, markanten Gesicht und breiten Schultern, die in einem blauen Polo-Hemd steckten. Da sein Foto der Wahrheit entsprach, war vielleicht auch der Rest der Infos, die sie vorab ausgetauscht hatten, nicht geflunkert gewesen. Wenn er jetzt auch noch so nett wie im Chat war … Dass er einen kleinen Spitzbart hatte, war allerdings schon mal nicht so Miriams Ding. Und dass Oliver meinte, sie mit einer Bestellung für zwei beeindrucken zu müssen, ohne sie vorher zu fragen, was sie überhaupt essen wollte, sprach auch nicht gerade für ihn.
Ihre Bedienung, eine junge Asiatin namens Mei mit einem Mund wie eine Kirschknospe, zischte ab und Miriam blies den Atem aus. „Erzähl mir doch mal was von dir.“ Sie faltete die Hände auf der СКАЧАТЬ