Rennt durch die Kontrolle.
Rennt auf die Straße zum Auto.
Jule parkt vor der Redaktion ein und sitzt dann noch lange im Wagen.
Sie denkt nach. Sie muss fast lachen. Für einen Moment … für einen kurzen Moment … da hat sie wirklich gedacht, es könnte was dran sein. An dieser irren Geschichte. Dass Käthe wirklich ihre Mutter sein könnte.
Aber das ist auch einfach. Waisenkinder sind – was das angeht – so wahnsinnig bedürftig. Der Wunsch, die Eltern kennenzulernen, ist einfach zu groß.
Aber jetzt … jetzt geht ihr Puls wieder normal. Und Jule grinst sich selbst im Schminkspiegel an. Sie muss an früher denken.
Und daran, dass sie es da schon kapiert hatte: Lieber keine Eltern, als ein Monster.
Und so soll es bleiben.
Aber in ihrem Kopf geistert noch immer eine Frage herum. Wie hat Käthe das wohl gemeint? Als sie gesagt hat: „Du warst keine Aussaat.“?
Hinter den hohen Mauern nutzt Käthe das restliche Licht. Wird ja immer schneller dunkel, in dieser Jahreszeit.
Käthe bereitet ein neues Beet vor. Frische Erde mit viel Dünger. Das beste Plätzchen an der sonnigsten Stelle.
Und Käthe zieht ihren linken Handschuh aus. Sie betrachtet den fehlenden Daumen. Die Narbe ist alt. Etwa so alt, wie Jule jetzt.
Käthe muss über sich selbst lachen. Wie albern sie war. Und wie naiv. Als ob ein Babykörper jemals richtig anwachsen würde. So ein Unsinn aber auch. Das alles hätte sie sich sparen können. Die Fehlversuche.
Das Warten.
Die Enttäuschung.
Ja, sogar die Haftstrafe.
Ihr erster Versuch war der Beste. Sieht man ja an Jule. Und als Käthe nach der Rosenschere greift …
… da weiß sie auch das Thema ihres nächsten Buches: Es wird davon handeln, wie man die besten Ergebnisse erzielt …
… mit Ablegern.
Und dieses Mal nimmt sie ihren Zeigefinger. Es soll ja ein Junge werden.
ISA THEOBALD lebt und arbeitet im Saarland, wo sie neben dem Schreiben auch noch kocht, Krimi-Dinner veranstaltet, Seifen siedet, mit Feuer tanzt, absonderliche Hobbys und ebensolche Menschen sammelt und im Großen und Ganzen sehr viel Freude am Leben hat. Geschichten von ihr sind unter anderem erschienen bei Ubooks, Verlag Torsten Low, UlrichBurger-Verlag, Charon-Verlag und Feder & Schwert.
Paula
„Eine kleine Dickmadame
Fuhr mal mit der Eisenbahn
Eisenbahn die krachte
Dickmadame die lachte“
Paulas Hände tanzten wie kleine Vögel durch die Luft, trafen Mamas Hände im perfekten Moment, während ihre Stimme quietschend immer lauter und schneller wurde. Mama hielt mit, sang lachend den Reim, bis Paulas Zunge sich verknotete und Mamas Hände die ihren in der Luft fingen – und hielten. Strahlend warf das achtjährige Mädchen sich in die Arme der dunkelhaarigen Frau und beide lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen.
„Du warst wieder in diesem Haus.“ Die Stimme ihres Vaters klang hart und kalt, seine Augenbrauen waren so fest zusammengezogen, dass sie sich fast an der Nasenwurzel trafen. Paula schaute zu Boden.
„Schau mich an, Kind. Du brauchst es nicht zu leugnen, man sieht es deutlich genug an deinem Kleid.“ Paula starrte auf die staubig-grauen Flecken, die sich über den Saum des cremefarbenen Spitzenkleides zogen und wie verräterische Finger auf ihr leuchtend rotes Gesicht zu weisen schienen. Papa seufzte.
„Paula. Ich habe es Dir schon tausendmal erklärt.“ Er erstarrte, als das kleine Mädchen sich mit verkniffenem Gesicht die Ohren zuhielt. „Paula!“ brüllte er und zog ihre Arme nach unten.
Das Kind blickte ihn mit tränennassen Augen an.
„Paula, dieses Haus ist gefährlich.“, setzte er erneut an; bemüht, seine Stimme ruhig zu halten.
„Ist es nicht.“ Leise, aber bestimmt.
„Ein-sturz-ge-fähr-det!“ antwortete er und betonte jede Silbe, als ob sie taub wäre. Oder dumm. „Verstehst Du, was das heißt, Kind? Das bedeutet, dass der alte Kasten jederzeit in sich zusammenfallen kann.“ Seine Stimme wurde wieder lauter. Paula sah in sein Gesicht. Sie hatte dieses Gesicht einmal geliebt – die großen, braunen Augen unter den buschigen Brauen, der gewaltige Schnauzer, der zitterte wie ein ängstliches Tier, bevor der Papa lachte – oder brüllte. Früher hatte er nie gebrüllt. Früher. Vor der Frau.
„Ich bin dort sicher.“ entgegnete sie ihm.
„Bist Du nicht, Herrschaftszeiten! Egal, wie gut Du klettern kannst, wenn das Dach zusammenbricht, bist Du ganz sicher nicht sicher!“ Da. Da zitterte der Schnauzer. Gleich würde er wieder laut werden. Dann war es ja jetzt auch egal.
„Mama würde das niemals zulassen.“
Papa plusterte sich auf, schien immer größer zu werden. Paula stand ganz still, blickte zu Boden; gewillt, das Donnerwetter über sich hinweg gleiten zu lassen. Als aber kein Laut kam, blinzelte sie von unten herauf durch die Wimpern und beobachtete entsetzt, wie Papa in sich zusammenzufallen schien und immer kleiner wurde. Sein Schnauzer zitterte, aber nun schien er die lediglich Tränen einfangen zu wollen, die über Papas bleiche Wangen liefen. Was sollte sie jetzt tun? Sie wusste nichts zu sagen. Erwachsene weinten normalerweise nicht. Und Papa schon dreimal nicht. Aber jetzt war Paula verwirrt. Sie fürchtete sich. Papa schien etwas sagen zu wollen; er rang mit Worten, die einen Weg über seine Lippen hinweg zu suchen schienen, doch der Schnauzer hielt sie auf. Sein gebeugter Rücken streckte sich, er schüttelte sich unmerklich, gewann seine Fassung zurück und schickte Paula auf ihr Zimmer. Sie folgte, ohne Widerworte.
Paula saß mit untergeschlagenen Beinen vor ihrem Puppentisch. Das Teeservice hatte Staub angesetzt, ebenso wie das spitzenbesetzte Kleid der Puppe. Elise. Früher war Elise immer bei ihr gewesen, immer in ihren Armen. Früher. Vor der Frau.
Die Stimmen im Salon klangen angespannt. Aus dem unverständlichen Murmeln waren Worte geworden, die Paula nicht mehr aussperren konnte. Die Stimme der Frau fräste sich СКАЧАТЬ