Auf die Passanten, die sich in den Abendstunden noch in den Straßen aufhielten, muss Thor einen seltsamen Eindruck gemacht haben. Er hielt das in Plastik eingewickelte Ding wie ein Tablett vor sich und schritt bedächtig über die große Straße, ohne das Läuten der Straßenbahn zu bemerken, die ihn um nur knapp drei Meter verfehlte. Erst als er an der Metzgerei Honigblut vorbeikam, verflog das beklemmende Gefühl und die Freude über den Bilderrahmen stieg. Wahrscheinlich war Herr Koreander einfach zu beschäftigt gewesen und hatte ihn deswegen ohne viele Worte aus dem Laden gehen lassen.
Zuhause an seinem Schreibtisch legte er die Wurstbrote neben sich, um sie noch zu essen, bevor seine Mutter ihn zum Abendessen rufen würde. Doch er vergaß sie bald, wie er auch den Rest der Welt um sich stets vergaß, wenn er als „Aegon Targaryen“ einen Text in einem der vielen Internet-Foren für Fantasygeschichten und Rollenspiele schrieb, galt er doch in diesen Kreisen als eine maßgebliche Autorität. Mittlerweile existierten, fein säuberlich nummeriert, an die hundert Profile mit seinem Namen. Aber bis auf „Aegon Targaryen42“, der über gewisse Aspekte esoterischer Fragen zu den Religionen der HALO-Allianz äußerst umfassend informiert war, hatte keiner je einen solchen Status erreicht wie Thor. Heute ging es um die vorab veröffentlichte Betaversion der sechsten World-Of-Warcraft-Erweiterung „Legions“, über deren Qualität man sich innerhalb unterschiedlicher Communities stritt. Der Bilderrahmen stand zwischen seinen Schätzen, die auf den Kommoden und Regalen seines Zimmers aufgereiht waren: Figuren und Bilder von Sagengestalten mystischer Welten, Tiere, Menschen, Elfen, Zwerge, Ungeheuer und tapfere Krieger. Alles, was diese bestimmte Sehnsucht in ihm auslöste; alles, was ihn sich fragen ließ, warum die Wirklichkeit nicht genau so faszinierend und voller Zauber sein konnte, wollte er stets um sich haben.
Erst nach dem Abendessen, als er sicher war, dass seine Mutter nun nicht mehr in sein Zimmer kommen würde, begann er damit, Fotos auszusuchen und spann bis tief in die Nacht schöne Geschichten um sein Leben herum, in denen er mutig, klug, geachtet und begehrt war.
Als Thor am nächsten Morgen aufwachte, sah er verträumt auf die wechselnden Bilder des Rahmens; die vielen Fotos von Rollenspielen, Conventions und Network-Partys. Sein Kopf lag schwer auf seinem Unterarm, während er die Abende in sein Gedächtnis zurückrief, wie bei einer Hommage, die auf ihn anlässlich der Auszeichnung für sein Lebenswerk gehalten wurde. Als der Rahmen schließlich eine Serie von Bildern der letzten Spielemesse zeigte, die er unsortiert eingefügt hatte, erhob er sich und ging in die Küche. Ein Zettel seiner Mutter lag auf dem Tisch. Er beugte sich neugierig darüber und stellte fest, dass es sich um eine Einkaufsliste handelte. Zu seinem Unmut hatte seine Mutter wieder ‚Wurst‘ mit aufgeschrieben. Ganz unten war außerdem der Satz notiert: „Thor einen Zettel schreiben“, und er bekam für einen kurzen Moment ein schlechtes Gewissen, weil sie sich doch solche Mühe gab. Dann erinnerte sich Thor wieder daran, was er in der Küche wollte, nahm eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und ging wieder in sein Zimmer. Schon im Türrahmen hielt er inne. Etwas fehlte auf seinem Schreibtisch. Dort, wo er gestern die Wurstbrote hingelegt hatte, stierte ihn nur noch Darth Vader von seinem Mousepad entgegen, als wollte er sagen: Auch wenn Du es Dir noch so wünschst, ich bin nicht Dein Vater. Ja, dachte Thor, dabei hätte ich von Darth Vader als Vater wenigstens noch etwas lernen können, statt nur, wie man seine Mutter von ihrer gescheiterten Ehe ablenkt. Er nahm einen Schluck Cola und wollte fast würgen. Sie schmeckte abgestanden und bitter.
Während er noch überlegte, wie er seiner Mutter erklären sollte, warum er die Brote nicht gegessen hatte, wechselte der Rahmen auf seiner Kommode wieder das Bild. Thor erstarrte, als er es sah. Das Foto, das nun nach den Spielemesse-Bildern angezeigt wurde, war keines aus seiner Sammlung. Unverkennbar war er selbst die Person auf dem Bild, doch saß er in einer mittelalterlichen Kriegsmontur auf einem sich aufbäumenden Pferd. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von Kampfeslust und Siegeswillen, sein Schwert schien – vielmehr als eine Waffe – ein Werkzeug der Gerechtigkeit und des Anstands zu sein. Es war eine Szenerie, die in der realen Welt so niemals stattgefunden hatte, höchstens in seinen Träumen. Er und sein Pferd waren eins, gleich einem Zentauren, und jeder musste wissen, dass, sobald er das Schlachtfeld betreten würde, die Schlacht unwiederbringlich entschieden war.
Je länger er das Bild ansah, desto unwirklicher kam es ihm vor, bis er zuletzt selbst vor den Spiegel in seinem Zimmer trat, um ganz sicher zu gehen, dass er und der Mensch auf dem Pferd tatsächlich wesensgleich waren. Es bestand kein Zweifel.
Als seine Mutter vom Einkaufen nach Hause kam, überfiel sie ihn wie üblich mit etlichen Erzählungen; dass sie sich Sorgen um seinen Appetit mache, dass der neue Bilderrahmen ihr gefiele, obwohl sie nichts von diesem ganzen Elektronikkram verstünde und dass ihr neuer Nachbar geklingelt und mit ihr einen Kaffee getrunken habe. Thor hörte diese Geschichten und es war, als erlebe er sie durch ein Fenster aus einer anderen Welt, als säße er als Herr auf seinem Schloss und lenke sich nur ein wenig ab, bis er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten widmen musste.
Dieses Gefühl begleitete ihn noch immer, als er schließlich zur Universitätsbibliothek kam, wo er neben seinem Germanistikstudium mit Schwerpunkt Mittelalterliche Literatur als EDV-Berater arbeitete. An seinem Arbeitsplatz angekommen, fand er seine Kollegen Hendrik und Vanessa in Aufruhr vor. Das zentrale System war abgestürzt. Während Hendrik sich um die zahlreichen Beschwerden kümmerte, versuchte Vanessa sich an einer ersten Diagnose. Die Schlange der Studenten, die wegen ihres VPN-Clients oder ihrer Mailquota um Rat fragen wollten, wurde immer länger. Von hinten riefen die Ersten, wann es denn endlich einmal weiterginge. Einige schimpften, wieder andere machten sich über die Unfähigkeit der Angestellten lustig. Als Thor Vanessas Gesicht sah, hatte sie Tränen in den Augen. Direkt vor ihr stand ihr Ex-Freund, mit dem sie erst vor ein paar Tagen Schluss gemacht hatte, zeterte laut und sah Vanessa dabei mit vor Wut verzerrtem Gesicht an. Da ging Thor hinter dem Beratungstisch hervor, stellte sich vor die versammelte Meute und rief:
„So, Leute, wir haben hier Probleme mit dem Server, falls es jemand noch nicht mitbekommen hat. Wir wissen noch nicht, woran es liegt oder was genau kaputt ist. Im Moment können wir eure Anfragen nicht bearbeiten. Also macht irgendetwas anderes, geht in die Cafete oder in die Lesesäle, ihr müsst eben einen Nachmittag mal ohne Internet auskommen.“
In der Menge tuschelte es und einige riefen immer noch Beschwerden. Doch Thor wich nicht von der Stelle und nach und nach verschwanden die Studenten, bis schließlich der Platz vor dem Beratungstisch leer war. Hendrik sah verwundert aus und Vanessa lächelte Thor an.
„Hendrik, lass das Telefon erst einmal klingeln“, sagte Thor, „versuch, jemanden von der Serverfirma zu erreichen. Vanessa, du überprüfst mit dem Diagnosetool, ob ein Software-Fehler vorliegt und ich gehe in den Serverraum und schaue, ob dort alles in Ordnung ist.“
Im Serverraum fand Thor sofort die Ursache für die Störung. Eine Ratte hatte sich dort eingenistet und einige Kabel angenagt. Nachdem er die Kabel ersetzt und die Ratte in die Freiheit entlassen hatte, ging er über den Campus zurück zur Bibliothek. Er spürte einen Anflug von der Energie, die ihn häufiger beim Schreiben eines Forumsbeitrags befiel; ein unzweifelhaftes Gefühl, dass die Dinge nur so sein konnten, wie er sie sah, und nicht anders, als müsse man sie nicht mehr überdenken.
Mitten in diesem Moment der Klarheit begann sein Herz plötzlich kräftiger zu schlagen. Von weitem sah er Fiona Gratmüller auf sich zukommen. Sie war die schönste Frau auf dem Campus und seit Monaten СКАЧАТЬ