Doch als er schließlich zuhause angekommen war, ließ er ihn ganz. Er schrieb Vanessa und sagte den DVD-Abend ab, dann stellte er den Bilderrahmen an seinen Platz. Er hatte endlich verstanden, was er ihm sagen wollte.
„Hallo Thor“, sagte Vanessa, als er am folgenden Vormittag neben ihr Platz nahm, „Hast du heute nicht frei? Hast du gestern noch Deine Beförderung gefeiert?“
„Nein, das nicht gerade.“
Vanessa sah ihn an, als erwarte sie, dass er noch etwas sage. Dann ließ sie von der Tastatur ab und wandte sich ihm zu.
„Nachdem du gegangen warst, habe ich mir schon gedacht, dass du nicht mehr zu mir kommst. Ich dachte, irgendwas wäre passiert. Du siehst heute ja schon wieder viel besser aus, nur ein wenig übermüdet.“
„Ja, das stimmt, es tut mir leid, dass ich so kurzfristig abgesagt habe. Aber gefeiert habe ich nicht. Ich habe mich gestern bescheuert aufgeführt. Keine Ahnung, was los war. Doch, eigentlich weiß ich es.“
„Hatte es vielleicht etwas mit dem Bilderrahmen zu tun, den du bei dir hattest?“
„Was? Wie kommst du darauf?“
„Das ist ein komisches Ding. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es einmal meinem Bruder gehört hat.“
„Deinem Bruder?“
„Ja, aber wir haben ihn zum Trödler gegeben, also den Rahmen, nicht meinen Bruder.“
Vanessa lächelte und das gefiel Thor.
„Dann ward ihr die Familie, die ihn zu Herrn Koreander gebracht hat?“
„Das waren wohl wir.“
„Und warum? Der Trödler hat gesagt, an dem Rahmen wäre etwas Sonderbares.“
„Nun, ich weiß nicht, aber es ist schon etwas sonderbar damit. Wir haben den Rahmen gekauft und mein Bruder hat ihn sich ins Zimmer gestellt. Er ist stundenlang, manchmal ganze Tage nicht aus seinem Zimmer gekommen und muss wohl nur diesen Bilderrahmen angestarrt haben.“
„Und warum?“
„Das weiß ich nicht. Er wollte es nicht sagen. Damals war er in der Pubertät und ich bin sicher, er hat sich Bilder von nackten Frauen draufgeladen oder so. Denn keiner durfte mehr zu ihm ins Zimmer. Aber zugeben wollte er es nicht. Kein Wunder … Wieso fragst du?“
„Ach, nichts. Ich glaube, ich werde den Rahmen auch wieder zurückgeben.“
„Du willst ihn zurückgeben? Warum?“
„Ich brauche ihn nicht. Bei mir steht eh schon so viel rum. Ich brauche mehr Platz. In meinem Leben muss sich langsam einmal etwas ändern. Das gilt übrigens auch für unseren DVD-Abend.“
„Das willst Du auch ändern? Schade, aber ok, wenn du keine Lust hast.“
„Nein, ich möchte dich lieber einladen. Zum Essen, oder so.“ „Du meinst, wir kochen zusammen?“
„Nein. Also, Vanessa, willst du mit mir … also … dass wir beide zusammen etwas Essen gehen und vielleicht hinterher ins Kino oder spazieren?“
Vanessa lächelte.
„Also kein DVD-Abend?“
„Nein, nicht zuhause. Draußen. Und dann bringe ich dich nach Hause bis vor deine Tür und komme nicht mehr mit rein, sondern bleibe auf der Schwelle stehen, und am nächsten Tag rufe ich dich an und frage dich, wie es war und wenn es dir gefallen hat, dann gehen wir noch einmal Essen …“
„ … und am nächsten Tag erzähle ich dann meiner besten Freundin, dass ich darauf warte, dass du dich meldest, und du lässt mich noch warten, aber dann meldest du dich doch oder stehst mit einem Strauß Rosen vor meiner Tür. So etwa?“
„Vanessa, seitdem wir uns kennen, möchte ich …“
„Nein, sag nichts, wir machen das so. Wohin gehen wir?“
Thor blieb nicht mehr lange sitzen. Kurz hatte er sich gefragt, ob er Vanessa alles erzählen sollte, aber vielleicht würden sich dafür noch andere Gelegenheiten ergeben. Als er in die Wohnung trat, saß seine Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer und sah fern.
„Hallo Thor, so früh schon unterwegs? Du hattest doch noch gar nicht gefrühstückt.“
„Ja, ich habe Vanessa bei der Arbeit besucht. Und eins wollte ich Dir noch sagen, Mama; inzwischen schmecken mir die Wurstbrote nicht mehr so gut.“
„Gut, dann mache ich sie nicht mehr. Früher hast du sie aber sehr gemocht.“
„Ja, früher, aber inzwischen, also, manchmal ändern sich halt gewisse Dinge.“
„Ich verstehe schon. Irgendwie habe ich mir das auch gedacht.“
Thor kam näher an das Sofa und fragte sich einen Moment, ob eine Spur von Verletztheit in ihrer Stimme gelegen hatte. Doch sie schien ganz ruhig, weder beleidigt noch geknickt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie in den letzten Tagen viel unterwegs gewesen war. Hatte sie nicht von ihrem neuen Nachbarn erzählt? Thors Finger umspielten das harte Plastik des Bilderrahmens, den er in der Hand hielt, seitdem er sich von Vanessa in der Bibliothek verabschiedet hatte. Die Bilder wechselten weiter von einem zum nächsten. Wieso hatte er die ganze Zeit erwartet, dass seine Mutter traurig sein würde, nur weil er die Brote nicht mehr essen wollte? Vielleicht, dachte er sich, sind Erwartungen so ähnlich wie die Bilder des Rahmens. Sie verstellen den Blick für das Wahrhaftige, das Wirkliche, für den Zauber, den die Welt eben nicht verloren hat, sondern der eben nur so gänzlich anders ist, als er ihn sich vorstellte.
„Warum trägst du eigentlich seit Tagen diesen Bilderrahmen mit dir herum?“, fragte seine Mutter.
„Das ist … ich wollte ihn zur Reparatur bringen, er ist wohl etwas kaputt.“
„Heute, am Sonntag? Komisch, vorgestern hat er noch einwandfrei funktioniert.“
„Woher weißt du das?“
„Ach, ich habe mir einen kleinen Scherz erlaubt. Weil du ja so viele Fotos von dir drauf gemacht hast, habe ich eines unserer alten Hochzeitsfotos hinzugefügt. Ich wollte wissen, ob du es erkennst. Ah, da ist es ja.“
Thor erkannte es sofort und starrte fassungslos auf das Hochzeitsbild und auf die Frau, die er zuerst für Fiona, dann für die blonde Obdachlose gehalten hatte.
„Das bist du? Und du hast das Bild eingefügt? Woher weißt du denn, wie man damit umgeht?“
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