Название: Vom Stromkartell zur Energiewende
Автор: Peter Becker
Издательство: Bookwire
Серия: ZNER-Schriftenreihe
isbn: 9783800593729
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Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit war in den Kombinaten und auch in dem für sie zuständigen Ministerium vorhanden. Denn die Furcht vor dem nächsten Winter und vor irgendwelchen Versorgungsengpässen bei Strom und Wärme war in der DDR allfällig. Die winterliche Sachproblematik in der DDR hatte aber keine technisch-physikalischen Ursachen. Entscheidend war vielmehr der exorbitant hohe spezifische Energieverbrauch (pro Kopf, pro Haushalt, pro Quadratmeter Wohnfläche, pro Einheit Sozialprodukt usw.). Die DDR lag bei diesen Werten in der gesamten Welt an der Spitze. Es war allerdings jedem Fachmann der Energiewirtschaft von vornherein klar, dass diese Missverhältnisse ihre Ursache in der exzessiven Energiepreissubventionierung hatten. Die Energiepreise entsprachen nicht im Mindesten den Kosten, verbrauchsbezogene Energieabrechnung war weitgehend unbekannt. Die Haushalte zahlten extrem niedrige, pauschalierte Energiepreise in der Form von Warmmieten. Der Energiepreis spielte für das Verbrauchsverhalten keine Rolle. Deswegen hatten es die westdeutschen Stromkonzerne einfach, wenn sie bei ihrem Werben für eine große Lösung warnten, dass „der Winter 1990/91 ziemlich kalt werden könnte in den neuen Ländern“.54 Aber in der Kälteperiode 1990/91 ging die benötigte elektrische Höchstleistung von früher 26.000 MW auf 16.000 MW zurück – wie von den Fachleuten erwartet, wenn auch nicht nach außen kommuniziert.
Auch die Bundesregierung stand hinter den Stromverträgen. Bundesumweltminister Töpfer war von seinen Fachleuten mit Informationen über den Zustand der ostdeutschen Kernkraftwerke Greifswald und Stendal versorgt worden. Insbesondere die vier Greifswalder Blöcke mit 1.760 MW elektrischer Leistung, die nicht nur 10 % des DDR-Stroms erzeugten, sondern auch Wärme für rund 70.000 Menschen, waren in einem schlimmen Zustand. Der Stahl der Druckgefäße in den Greifswalder Reaktoren war durch den Neutronenbeschuss schlimmer geschädigt als erwartet; „die konstruktiven Mängel im Sicherheitssystem der Reaktoren erlaubten keinen Schutz bei Bränden oder anderen Katastrophen; das Sicherheitsbewusstsein von Kombinatsleitern wie Betriebsingenieuren, auch nach der Wende, sei katastrophal“, schrieb der SPIEGEL.55
Klar war deswegen, dass diese Atomkraftwerke keine Zukunft hatten. Sie mussten sofort stillgelegt werden; mit der Folge, dass ihr Angebot von Strom und Wärme wegfiel. Deswegen wurde am Standort Greifswald sofort ein 200 MW-Heizölkraftwerk errichtet, für das Töpfer PreussenElektra brauchte. Auch das Bundeswirtschaftsministerium stand hinter dem Sicherstellungs-Angebot der Konzerne: Die Abteilungsleiterin Ria Kemper aus dem Bundeswirtschaftsministerium, bei der die Konzerne vorsprachen, war geradezu begeistert. Der liberale Wirtschaftsminister Helmut Haussmann und sein Staatssekretär von Würzen unterstützten die Überlegungen, ergriffen von Anfang an Partei für die Stromverträge und begleiteten die Verhandlungen zwischen den zunächst drei Stromvertrags-EVU und der DDR-Regierung sowie der Treuhandanstalt positiv und stellten zwei kartellrechtliche Ministererlaubnisse in Aussicht.56 Denn der Bund hatte primär das Interesse, das Energieversorgungsproblem in der DDR sozusagen „mit einem Schlag“ zu lösen und diese Aufgabe an ein Kartell der großen Stromversorger zu übertragen. Deren Gestaltungsvorstellungen wurden daher akzeptiert: Die Stromverträge waren – ebenso wie die später formulierten Gasverträge – zweistufig: Die erste Stufe betraf das Verbundnetz der Spannungsstufen 220 und 380 kV sowie die Großkraftwerke (außer die Atomkraftwerke) bzw. bei den Gasverträgen das Hochdruckverbundnetz. Diese Stufe der Verträge war auch später nicht umstritten. Die regionale Stufe allerdings, die Bildung von je 15 Bezirks-Spartenunternehmen, kollidierte mit den kommunalen Interessen. Den drei großen Stromvertrags-EVU RWE, Bayernwerk und PreussenElektra boten nämlich die Stromverträge in ihren beiden Teilen die Möglichkeit, ein stromwirtschaftliches Kartell sozusagen von der holländischen bis zur polnischen Grenze mit Durchgriff von der Stromerzeugung bis hin zur Versorgung der letzten Glühbirne in jeder Gemeinde zu schaffen. Pläne zu einem „bisher unrealistischen elektrizitätswirtschaftlichen Imperialismus, gedacht auch in Richtung Osteuropa“ reiften.57 Man wähnte eine große Renaissance alter Zeiten vor sich und wollte daher in den Stromverträgen keinerlei Konkurrenz und keine Schlupflöcher zulassen. Die Stromvertrags-EVU teilten daher die Regional-EVU in von ihnen geschaffenen Kunstbezirken untereinander auf und schlossen untereinander Abgrenzungs-, sogenannte „Demarkationsverträge“. Man wollte sich seine Kundschaft nicht streitig machen und den Wettbewerb untereinander auf Dauer ausschließen.
Allerdings gab es im letzten Moment noch einen unerwarteten Querschläger. Das große Geschäft hatten nämlich zunächst die „drei Großen“ unter sich ausmachen wollen; die Beteiligung der Hamburger Elektrizitätswerke (HEW), der Berliner BEWAG, der Vereinigten Elektrizitätswerke (VEW), der Energieversorgung Schwaben und des Badenwerks war nicht vorgesehen. Da bekam Roland Farnung, Chef der HEW, das Vertragswerk in die Hände. Im Schreiben an die Chefs der großen Konkurrenten drohte er damit, das Bundeskartellamt einzuschalten.58 Diese Drohung hätte verfangen: Das Bundeskartellamt wollte nämlich einen „Ausnahmebereich“ in einem künftigen Teil Deutschlands überhaupt nicht erst entstehen lassen.59 Das Amt konnte zwar das Amt für Wettbewerbsschutz der DDR prinzipiell von seiner wettbewerbspolitischen Auffassung überzeugen. Es drohte mit einem Fusionskontrollverfahren. Allerdings war klar, dass bei einer eventuellen Untersagung ein Ministererlaubnisverfahren ins Haus gestanden hätte. In informellen Verhandlungen mit der Treuhandanstalt konnte erreicht werden, dass die Wettbewerbsstruktur in der DDR wenigstens „nicht schlechter“ als diejenige in der BRD ausgestaltet wurde.60 Präsident Kartte „schmerzte die vertane Jahrhundert-Chance“ bei der Neuordnung der Elektrizitätswirtschaft der DDR. Staatssekretär Pautz versicherte auf der anderen Seite, „wäre es nach uns gegangen, ... dann hätten wir den Dreien alles gegeben“.61
In dieser komplexen Situation schlugen sich die Konzerne auf die sichere Seite und nahmen die fünf kleinen Schwestern in das – jetzt – Achterkartell auf: Nunmehr kam es tatsächlich zu einer Aufteilung der DDR:
– PreussenElektra erhielt die Kombinatsnachfolger HEVAG mit Sitz in Rostock, die EMO mit Sitz in Neubrandenburg, die Mecklenburgische Elektrizitätsversorgung AG (MEVAG) mit Sitz in Potsdam;
– RWE erhielt die Energieversorgung Spree/Schwarze Elster AG (ESSAG) mit Sitz in Senftenberg, die Oder-Spree-Energieversorgung AG (OSE) mit Sitz in Frankfurt/Oder, die Westsächsische Elektrizitätsversorgung Mitteldeutschland AG (WEMAG) mit Sitz in Markkleeberg bei Leipzig;
– das Bayernwerk die Elektrizitätsversorgung Nordthüringen AG (ENAG) mit Sitz in Erfurt, die Ostthüringer Energieversorgung (OTEV) mit Sitz in Jena und die Südthüringer Energieversorgung AG (SEAG) mit Sitz in Meiningen, eine Art Thüringer Fürstentum,
– VEW erhielt die Mitteldeutsche Energieversorgung AG (MEAG) mit Sitz in Halle;
– die zur Energie Baden-Württemberg (EnBW) fusionierten EVS und Badenwerk erhielten die ESAG mit Sitz in Dresden;
– die Hamburger Elektrizitätswerke erhielten die Westmecklenburger Elektrizitätsversorgung AG (WEMAG) mit Sitz in Schwerin;
– die BEWAG erhielt die Elektrizitätsversorgung Berlin AG (EBAG).
Am 22.8.1990 wurden die Stromverträge unterschrieben.