Название: Tödlicher Nordwestwind
Автор: Lene Levi
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738071719
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Er musste diesen Enno Fedder unbedingt fragen, ob er zufällig mit Jülf verwandt sei. Robert saß sicher in seinem Auto wie in einem Faradayschen Käfig und wartete darauf, dass endlich die Kollegen von der Spurensicherung eintreffen würden. Diese Leute hätten natürlich nicht die geringste Chance, irgendwelche Details auf dem Kutter aufzuspüren oder gar sicherzustellen, die auf eine mögliche Todesursache des Mannes verwertbare Hinweise liefern könnten. Sie würden vermutlich die Wasserleiche einfach nur einsacken und abtransportieren.
Und genau so, wie es sich Robert bereits ausgemalt hatte, traf es eine Stunde später ein. Nach ihrer routinierten, jedoch ergebnislosen Untersuchung verpackten die Kollegen den Toten in einen Plastikbehälter und verschwanden anschließend im Zwielicht der untergehenden Sonne.
Roberts Magen meldete sich. Er verspürte ein leichtes Hungergefühl. Aber ihm war zumindest an diesem Sonntagabend der Appetit auf fangfrischen Fisch gründlich vergangen. Im Handschuhfach entdeckte er eine angerissene Tüte Kartoffelchips. Er stopfte das Zeug in sich hinein, startete den Motor und fuhr nach Hause.
Kapitel 4
Als Robert vom Pferdemarkt in die schmale Gasse einbog, in der ein Kino und ein Café ums Überleben kämpften, gelangte er nach ein paar Metern auf eine mit groben Pflastersteinen angelegte Straße. Hier begann das Ziegelhofviertel, eine der inzwischen bevorzugten Wohngegenden der Stadt. Robert überkam bei seinen Streifzügen durch dieses Viertel immer wieder das Gefühl, er betrete an dieser Stelle eine Puppenstubenstadt, so klein und gediegen waren einige der Häuser. Die mit Rosen und Buchsbaumhecken bepflanzten Vorgärten waren ebenso winzig wie die Häuser selbst und von den davorliegenden schmalen Bürgersteigen konnte jeder Passant direkt in die Wohnzimmer der Menschen blicken. Jedes Mal, wenn er in der hiesigen Regionalzeitung las, Oldenburg wäre eine Großstadt, musste er schmunzeln. Dabei stimmte diese Einordnung durchaus, denn in der Stadt lebten über 100.000 Einwohner, genau genommen waren es sogar über 162.000. Und Jahr für Jahr nahm diese Zahl noch zu, denn Oldenburg hatte sich eine Gediegenheit bewahrt, die die Menschen, die hier lebten, sehr schätzten.
Aber es blieb nicht nur bei diesem Puppenstubenstadtgefühl. Schon nach wenigen Metern änderte sich der Gesamteindruck. In einem der nächsten und schäbig wirkenden Mehrfamilienhäuser, an dessen Außenfassade seit den letzten Weltkriegstagen offenbar keinerlei Renovierungen mehr durchgeführt worden waren, lebte Roberts Mutter nun schon seit vielen Jahrzehnten. Über einem der Kellerfenster dieses aschgrauen Gebäudes waren noch immer deutlich drei mit weißer Farbe aufgemalte Großbuchstaben LSR mit einem Richtungspfeil hin zur Fensteröffnung gut lesbar. Die alte Dame wunderte sich selbst am meisten darüber, dass sie es für einen Großteil ihres Lebens hier ausgehalten hatte, denn die Wohnung war alles andere als komfortabel.
Rixte Rieken war geistig noch sehr fit, fuhr sogar noch Auto, auch wenn inzwischen der klapprige R 4 immer mehr Beulen bekam, über deren Entstehung sie nicht sprach und auch nichts wissen wollte. Sie nahm am Leben noch regen Anteil, soweit dies ihre gesundheitlichen Einschränkungen erlaubten. Rixte litt schon jahrelang an unregelmäßig auftauchenden, nicht therapierbaren Migräneanfällen, an denen ganze Generationen von Fachärzten wie Spezialisten verzweifelt waren. Keiner der Mediziner konnte ihr jemals ein probates oder wirksames Mittel gegen ihr Leiden verordnen, sodass sie es irgendwann aufgegeben hatte, die gutgemeinten ärztlichen Ratschläge und Therapien zu befolgen. Mit zunehmendem Alter lernte sie ganz pragmatisch damit umzugehen und irgendwann akzeptierte sie es, mit ihrer Krankheit so gut es eben ging fertig zu werden.
Robert blieb für einen Moment vor dem Haus stehen und sah hinauf zu ihrem Wohnzimmerfenster. Er war beruhigt, da er die eingeschaltete Zimmerbeleuchtung erkennen konnte und die Bewegungen ihres Schattenbildes, das durch das Licht auf die Zimmerdecke projiziert wurde. Rixte einem trostlosen Altersheim auszuliefern, das hätte er nicht übers Herz gebracht, deshalb kümmerte er sich regelmäßig um sie. Er selbst bewohnte nur wenige Gehminuten entfernt eine Etagenwohnung in einem renovierten Gründerzeithaus. Diese Nähe erwies sich als sehr praktisch, denn wenn Markttage waren, besorgte er alle notwendigen Einkäufe und versorgte seine Mutter gleichzeitig mit dem allerneuesten Stadttratsch.
Robert mochte dieses Viertel sehr. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Grundsteinlegung des Hauses, in dem er nun selbst wohnte, lies die etwas eigenwillige Hauseigentümerin ein Sandsteinrelief an die Hausfassade anbringen. Das steinerne Kunstwerk stellte eine barbusige junge Frau dar, die ganz verklärt in der einen Hand einen Joint hielt und in der anderen einen Backstein. Manchmal blieben Passanten davor stehen und betrachteten verwundert oder neugierig das Relief. Darunter hatte der Bildhauer eine Hinweistafel angebracht. Darauf stand der eindeutige Titel: Die Kifferin.
Robert kannte die Hauseigentümerin schon seit vielen Jahren, denn er wohnte früher schon einmal hier in diesem Haus, damals jedoch noch als Polizeischüler und Mitglied einer WG, die zum Teil aus schwer erziehbaren Jugendlichen und zum anderen Teil aus Studenten und schließlich der Vermieterin selbst bestand. Das kiffende Hippiemädchen an der Hauswand war vermutlich deshalb auch eine Art Reminiszenz an längst vergangene Zeiten. Als Robert sich um seine Versetzung nach Oldenburg bemühte und sich bereits abzeichnete, dass seinem Antrag stattgeben würde, war ihm der Gedanke gekommen, seine damalige Vermieterin im Internet ausfindig zu machen. Sie erinnerte sich tatsächlich noch an ihn. Und so war er, nicht ganz zufällig, zu dieser schönen Wohnung gekommen. Mit seinem Einzug schloss sich ein Kreislauf in seinem Leben und dieses Ereignis vermittelte Robert das Gefühl, genau an einem Ort angekommen zu sein, an dem einmal alles begonnen hatte - und wo er jetzt wieder hingehörte. Inzwischen lebten hier längst andere Mieter. Die WG existierte schon lange nicht mehr. Die alten Geschichten waren mit den einstigen Hausbewohnern ausgezogen. Eine Frau, die direkt unter ihm wohnte, besaß einen silbergrauen Jagdhund, der jeden Morgen in den Garten schiss. Robert mochte Hunde. Und über ihm schien ein junges Pärchen zu wohnen, das er zwar schon des Öfteren nachts gehört, aber bisher noch nie persönlich zu Gesicht bekommen hatte.
Mit den alteingesessenen Oldenburgern war er es dagegen nicht so einfach. Im Grunde hatte anscheinend nur er sich in den vergangenen Jahren verändert, so kam es ihm zumindest vor. Seine ganz persönliche Art, auf die Dinge des Lebens zu sehen und sie zu bewerten, war eine völlig andere geworden, seitdem er die Stadt irgendwann in den 80er Jahren verlassen hatte. Manchmal begegneten ihm in der Fußgängerzone vertraute Gesichter, die er jedoch nicht mehr namentlich zuordnen konnte. Seltsamerweise erkannten ihn selbst aber wesentlich mehr Leute aus früheren Tagen als umgekehrt. Wenn sie ihn fragten, wo er die ganze Zeit gesteckt habe und er dann erzählte, dass er in Berlin und anderswo gelebt und gearbeitet hätte, bekamen sie mitunter seltsam leuchtende Augen, als wäre Berlin das Gelobte Land oder gar die sächsische Elbmetropole Dresden ein exotischer Ort, der auf einer abgelegenen Südseeinsel liegt. So mancher seiner einstigen Weggefährten schien zwar unter der Beschaulichkeit und Trägheit der Stadt zu leiden, aber diesen Ort jemals für längere Zeit zu verlassen, dazu wäre kaum einer von ihnen bereit gewesen.
Dem Stadtfluidum war irgendein undefinierbarer Klebstoff beigemischt. Und eben diesen Leim spürte Robert nun selbst wieder unter den eigenen Schuhsohlen. Oldenburg war eine Klebestadt. Hier lebten scheinbar friedfertig mit- und nebeneinander Studenten und Bankangestellte, Esoteriker und Verwaltungsbeamte, Arbeitslose und Akademiker, Lehrer und Besserwisser, Fahrradfahrer und Altrocker. Und genauso stellten es die hiesigen Stadtväter auch sehr gern dar, wenn sie über die von ihnen selbst inszenierte »Zukunftsstadt« ins Schwärmen gerieten.
Die Fußgängerzone in der Innenstadt funktionierte im Grunde wie ein Kettenkarussell, sie war öffentliche Ringelpiezanstalt und zugleich auch die Buschfunkzentrale Oldenburgs. Für einen Kriminalkommissar ein ziemlich ergiebiges Terrain. Robert brauchte sich eigentlich nur eine Weile in eines der Straßencafés zwischen Staulinie und Theaterwall zu setzen, um von diesem Fixpunkt aus die СКАЧАТЬ