Schnee von gestern ...und vorgestern. Günther Klößinger
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Название: Schnee von gestern ...und vorgestern

Автор: Günther Klößinger

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783737520829

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СКАЧАТЬ ob er Ilka von den neuesten Erkenntnissen berichten sollte. Mit einem Seitenblick auf Nocturne, der sich seit Stunden derselben Seite seiner Zeitung zu widmen schien, beschloss er allerdings, das zu vertagen.

      Die Tränen waren getrocknet, aber ihre Spuren brannten noch auf den Wangen. Auch das Schluchzen war verklungen, Yasemin spürte noch ein Kratzen im Hals. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich selbst schelten. Warum konnten diese Wunden nicht einfach heilen. Wieso vernarbten sie nur, eitrig nässend und schorfverkrustet, um immer wieder aufzubrechen? Ein leichter Hauch spätnachmittäglichen Windes kühlte ihr Gesicht, strich über ihre schweren Lider. Sie zog den Duft des sich verabschiedenden Frühjahrs ein, füllte ihre Lungen mit dem Versprechen eines Sommers, bald ganz hier Halt zu machen. Yasemin schloss die Augen, lehnte sich an die Scheunenwand, spürte das alte Holz durch ihr Shirt und bemühte sich, wieder regelmäßig zu atmen. Ihr Herz hatte die Trance-Beat-Party im Hals eingestellt und eine neue Angst klopfte zaghaft an: Hatte sie Jasmin, Nick, Robert, Jessica und auch Mehmet vor den Kopf gestoßen? Als der letzte Beckenschlag des Drumkit verklungen war und sie sich, in Tränen aufgelöst, an ihre Saz geklammert hatte, war nach einer Ewigkeit schweigender Beklommenheit Jasmin an sie herangetreten. Das Mädchen hatte sie vorsichtig am Arm genommen und sie etwas fragen wollen. Jassys besorgter Blick war Yasemin wie eine Alarmsirene erschienen: Sie kannte diese Blicke, die Fragen, die sie nach sich zogen: „Willst du darüber reden?“, oder: „Können wir dir irgendwie helfen?“

      Wie oft hatte sie diese heuchlerischen Betroffenheitsfloskeln schon gehört? Wie oft hatte sie schon ihre Ängste nach außen gekehrt, nur um zu erleben, wie sie dann in Kehrichteimer gefegt wurden: „Ich kann dich gut verstehen!“

      Wie sollte Yasemin das glauben? Hatten diese Sozialpädagogen, Behördentussis und Verwaltungsbeamten, die Polizisten, Anwälte und Richter auch solche Erfahrungen hinter sich? Waren sie jemals verfolgt, war die Existenz von Menschen, die sie liebten, einfach ausgelöscht worden? Waren sie jemals auf der Flucht gewesen, hatten um ihr Leben gezittert, waren wehrlos einem Vertrauensvorschuss ausgesetzt gegenüber Menschen, die einen verstecken konnten? Ein Vertrauen, das Freundschaft, aber auch Missbrauch, Verrat oder Verhaftung bedeuten konnte. Kannte irgendwer dieser betroffen blickenden Berufsseufzer das Gefühl, anderen ausgeliefert zu sein, jeden Tag aufs Neue um seine Freiheit zu bangen oder gar zu flehen? Gnade im Angesicht eines gnadenlosen Asylgesetzes bedeutete, zu leben, ohne ein Gesicht zu haben. Nirgends konnte Yasemin es wirklich zeigen, ohne die Angst zu spüren, jemand könnte sie den Behörden ausliefern, sie erpressen. Und alle Furcht, die sie in Worte gefasst hatte, war stets abgetan worden mit Achselzucken oder Sätzen wie: „Tut mir leid, aber da kann ich dir leider nicht helfen, laut Gesetz ...“ Gesetz, Gesetz, Gesetz! Die Vertreter irgendeines Gesetzes hatten sie zur Flucht gezwungen, ihr die Eltern geraubt, und die Gesetze ihres erhofften Zufluchtsortes hatten sie wiederum zu Freiwild gemacht, als Lügnerin diffamiert und die letzte Hoffnung auf so etwas wie ein „Zuhause“ zusammen mit dem Asylantrag das Klo runtergespült.

      Und dann war da dieser Blick von Jasmin, die sie am Arm berührte und besorgt guckte. Aber die konnte doch auch nichts für sie tun als wieder bloß reden, reden, reden! Guter Wille und Mitleid – was brachte ihr das schon.

      Mit einem heftigen Ruck hatte sich Yasemin von Jassy losgerissen, als hätte diese sie mit dem Polizeigriff festgehalten. „Deinen Sozialarbeiterquatsch kannst du dir sparen!“, hatte die Weinende gezischt und war, noch immer die Saz im Arm, aus der Scheune gelaufen.

      Jessica war aufgesprungen, um ihr nachzulaufen, aber Mehmet hatte ihr zu- oder vielmehr abgewunken: „Lass sein! Yasemin braucht jetzt Zeit! Reden sinnlos gerade!“

      Yasemin war einmal um die Stallungen herumgelaufen, bis zu der Scheune nahe am Waldrand. Sie hatte die Saz neben sich gestellt und sich angelehnt. Die Wand verströmte den unverkennbaren Duft wurmstichigen Alters.

      Da war sie ja: diese Hexe, die ihm um ein Haar das Auge verbrannt hatte! Sie stand nicht einmal zehn Schritte von ihm entfernt, lehnte an einer alten Scheune und heulte. Jetzt nur nicht schneller reden als denken – nein, gar nicht reden. Wäre das nicht die Gelegenheit, es dieser Schlampe zu zeigen?

      „Beobachten“, hatte der Chef angeordnet, „aus einem anderen Blickwinkel! Wir müssen wissen, wie wir bei der Ausführung von Plan zwei am besten vorgehen!“

      Kein Wort von „töten“, aber was, wenn diese abstoßende Kreatur ihn entdeckt hätte? „Dann müsste ich ...“, flüsterte er, biss sich aber fast dabei in die Zunge. Es schmerzte – und daran war nur sie schuld, diese flennende Rotzgöre. „Dann wäre ich gezwungen ... Ja, genau: gezwungen“, das war es! Dagegen könnte der Chef nichts haben! „Gezwungen“, wisperte er und ein Speichelfaden verfing sich im Gestrüpp vor ihm. Nicht einmal zehn Schritte! Sie würde ihn erst im letzten Moment sehen, dann würde er sie packen, seine Hände um ihren Hals legen und schneller zudrücken, als sie schreien konnte. Wenn ihre Augen dann hervorträten, würde er lachen. Leise natürlich, damit die anderen es nicht hörten. Jedenfalls sollte das das Letzte sein, was diese Türkenhexe in ihrem Drecksleben sehen sollte: sein lachendes Gesicht! Darum bemüht, keinen Laut zu erzeugen, richtete er sich auf. Sein Blick war starr zu dem heulenden Etwas gewandt, das noch gar nicht wusste, wie viel Grund es für sein Gerotze hatte.

      Yasemin schrak zusammen, als sie die Hand spürte. Entsetzt riss sie den Kopf hoch und sah jemanden an ihrer Seite.

      „Nick!“, stieß sie, gleichermaßen vorwurfsvoll und erleichtert, hervor.

      „Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe!“

      Obwohl genügend Platz war – sie hatten eine ganze Scheunenwand für sich – rückte Yasemin demonstrativ etwas zur Seite. Nick lehnte sich ebenso an das alte Holz, wie das Mädchen es tat, zog ein Päckchen Tabak hervor und schien meditativ in das Drehen einer Zigarette zu versinken. Yasemin war ihm dankbar dafür, dass er einfach gar nichts sagte. Sicher, das musste natürlich nichts heißen, aber dass er ihr Zeit gab und sie nicht zum Reagieren zwang, war für sie ein Geschenk.

      „Verdammt noch mal!“ Hatte er das nun von sich gegeben oder nur gedacht?

      Egal, jedenfalls hatte er sich so sehr auf diese stinkende Töle konzentriert, dass er nicht bemerkt hatte, wie der Junge von den Stallungen herübergekommen war. Er duckte sich, versuchte seine vor Erregung zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. Es knirschte und knackte, als er wieder in die Hocke ging – sollte er fliehen? Er hielt die Luft an und starrte zu dem schweigenden Paar hinüber: Sie schienen nur mit sich selbst beschäftigt zu sein, würdigten das Gebüsch keines Blickes, was heißen musste, dass sie ihn nicht entdeckt hatten.

      „Möchtest du?“, durchbrach Nick die Stille. Er hielt Yasemin eine seiner unverwechselbar schiefen Zigaretten hin. Yasemin schüttelte nur kurz den Kopf, kaum sichtbar, aber Nick nahm es wahr. Er steckte das abenteuerliche Gebilde aus Tabak und Papier in seinen eigenen Mund. Lässig zündete er es an, inhalierte lange und ließ den Blick über die Landschaft schweifen, als sähe er sie zum ersten Mal. Yasemin wusste natürlich nicht, dass Nick einige Jahre seiner Kindheit hier verbracht hatte und sein Blick eher zu Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ passte: ein Rückblick auf vergangene Jahre, im Bewusstsein, sich noch einmal einer großen Herausforderung zu stellen. Plötzlich fühlte sich der Junge wie der greise Fischer. Nick fand den Gedanken so komisch, dass er sich fast am eigenen blauen Dunst verschluckte. Er hustete eine Rauchwolke aus. Ein zaghaftes, fast schüchternes Klopfen auf den Rücken half dem gequält vorgebeugten Jungen, den Hustenreiz zu vertreiben. Als er wieder durchatmen konnte, lehnte er sich an die Wand. Dabei erhaschte er einen Blick auf Yasemins Gesicht. Eigentlich hatte er sich gesträubt, ihr in die Augen zu sehen, aber dem Spiel ihrer Mundwinkel konnte er sich nicht entziehen.

      „Jetzt siehst du aus, als hättest du auch geheult!“, stellte Yasemin trocken fest. Sie reichte Nick ein Papiertaschentuch.

      „Moment СКАЧАТЬ