Beziehungen. Galina Hendus
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Название: Beziehungen

Автор: Galina Hendus

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783742703521

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      Münsterkäse

      Nachdem ich gemeinsam mit meiner Frau Alina von unserer dreiwöchigen Algarve-Reise zurückgekehrt war, stürzte ich mich gespannt in den heimischen Alltag. Im Urlaub versuche ich stets, auf Handy und Laptop zu verzichten. Ein Sommerurlaub zum Abschalten ist bei uns ein wichtiger Brauch. Nun aber hatte der Alltag, der für kurze Zeit von mir gewichen war, mich wieder.

      Ich prüfte mein Mailkonto auf neue Nachrichten und beantwortete einige private E-Mails. Dabei stieß ich unverhofft auf die Mitteilung meines alten Freundes Karlheinz Krisch, kurz Krischa genannt. Wir waren alte Schulfreunde und hatten einst gemeinsam ein Internat in Fulda besucht. Viele Jahre später trafen wir uns in Berlin wieder – er als Künstler und Meisterschüler an der Hochschule für bildende Künste, ich als Student der Ingenieurswissenschaften an der Technischen Universität.

      Nach den Studienjahren trennten sich unsere Wege. Aus guten Freunden wurden alte Bekannte. Von Zeit zu Zeit nahmen wir telefonischen Kontakt auf, um Erinnerungen und besondere Ereignisse auszutauschen, doch diese Kontakte beschränkten sich bald auf die obligatorischen Weihnachtsgrüße und Geburtstagswünsche. Dann aber war ein technisches Wunder in unser Leben getreten: das Internet. Wir begannen, uns auf elektronischem Wege Briefe zu senden, und daraus entwickelte sich schnell eine Art nostalgisches Begehren nach besonderen Werten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit, dem wir im gemeinsamen Kontakt nachgingen.

      Krischa begann, Schritt für Schritt unsere alten Klassenkameraden zu reaktivieren. Im Gegensatz zu mir, der ich bis heute als selbstständiger Berater im medizinischen Bereich tätig bin, war er bereits auf seinen wohlverdienten Ruhestand eingestellt. Da sein Gehirn jedoch nach Arbeit verlangte, widmete er sich ganz dem Projekt, unsere ehemaligen Mitschüler wiederzufinden. Diese waren über das ganze Land verstreut, doch mithilfe des Internets nahm die Wiederbelebung unserer alten Klasse zunehmend Gestalt an. Dabei übernahm Krischa die Rolle eines wichtigen Koordinators.

      Krischas E-Mail ließ mich an unsere Jugend zurückdenken, die viel zu schnell vergangen war. Er stellte fest, dass das Ende unserer Schulzeit nunmehr 50 Jahre zurücklag. Eine Ewigkeit! Würden wir die Mitschüler wiedererkennen? Waren sie noch alle an Bord, gesund und stabil? Bewegt von Gedanken wie diesen hatte Krischa beschlossen, ein Wiedersehen mit den alten Kameraden an alter Wirkungsstätte zu arrangieren, in der Barockstadt Fulda.

      Krischas Nachricht führte meine Erinnerungen zurück in meine Kindheit, in die dunkle Zeit während des Krieges und die mir immer bewusster werdenden Erlebnisse und Ereignisse der Nachkriegsjahre. Besonders beschäftigte mich eine Erinnerung, die mir wahrscheinlich für den Rest meines Lebens im Gedächtnis bleiben würde. Es ging um einen außergewöhnlichen Vorfall, der … – doch halt, eins nach dem anderen.

      Für meine Generation, die zu den Kriegsjahrgängen zählt, gab es in der Zeit der Besatzung durch die Alliierten viele Herausforderungen hinsichtlich einer adäquaten Ausbildung. Schulen, Lehrwerkstätten, Universitäten und andere Ausbildungsplätze waren zum Teil zerstört oder belegt, da Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten in ihnen untergebracht waren. Zudem fehlten Lehrer und Fachpersonal, die in Gefangenschaft, als vermisst gemeldet oder im Krieg umgekommen waren. Wir Kinder selbst sahen kein Problem darin, aber natürlich unsere Eltern, die sich wünschten, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung für ihr zukünftiges Leben erhielten. Angebote der Kirchen beider Konfessionen konnten die katastrophale Lage etwas abmildern. So kam es, dass meine Eltern sich für ein katholisches Internat in der Bischofsstadt Fulda entschieden und mich dort Anfang der fünfziger Jahre anmeldeten.

      Für mich als Zehnjährigem, der gewohnt war, das freie Leben auf dem Hof seiner Großeltern verbringen zu dürfen, stieß diese Verbannung auf großes Unverständnis. Die Entscheidung meiner Eltern glich einer harten Strafe, die ich nicht verdiente und erst recht nicht verstand. Wir waren eine Großfamilie und lebten in harmonischer Gemeinschaft – und plötzlich war da dieses katholische Internat mit seinen strengen Regeln und seiner straffen Organisation. Zu Beginn kam mir die Zeit in dieser Einrichtung wie ein bloßer Freiheitsentzug vor. Das Gefühl der Unterdrückung machte mir Angst. Doch langsam fand ich mich mit den neuen Verhältnissen ab. Mir wurde bewusst, dass es meine Eltern gewesen waren, die mich vertrauensvoll in die Abhängigkeit fremder Menschen gegeben hatten. Aus dieser Erkenntnis heraus machte ich, soweit es ging, aus der Not eine Tugend. Ich freundete mich mit gleichaltrigen und gleichgesinnten Mitschülern an, um das Leben unter der strengen Reglementierung und den einseitigen Vorstellungen der Vorgesetzten besser ertragen zu können.

      Im Internat glich fast jeder Tag dem anderen. Morgens wecken, aufstehen, waschen, frühstücken. Nach dem kargen Frühstück gingen wir gemeinsam mit unserem Präfekten und Mentor, Herrn Fink, einem Laienbruder aus Oberfranken, in die nahegelegene Kapelle zur Morgenandacht, um uns gewissenhaft auf den Tag vorzubereiten.

      Zu dieser Zeit war ich elf Jahre alt. Meine Haltung zur Freiheit und die Sehnsucht nach meinem Zuhause waren noch immer sehr ausgeprägt, sodass ich mich dem Zwang innerlich zwar widersetzte, dies nach Außen aber nicht zeigte. Ich glaube, dem einen oder anderen Mitschüler ging es damals ähnlich. Weder meine Klassenkameraden noch ich waren in der Lage, gegen diesen Zwang zu protestieren. Wir ahnten, dass ein Aufbegehren Strafen nach sich ziehen würde, die bei groben Verstößen auch unseren Eltern schriftlich mitgeteilt wurden. Beides, die direkten internen Strafen durch die Patres wie auch der Verweis aus dem Internat, waren Maßnahmen, die erhebliche Auswirkungen auf unsere weitere persönliche Entwicklung haben würden.

      Der Tag, von dem ich jetzt berichte, war ein Tag, den ich nie vergessen werde. Er zeigte die Unbeholfenheit der strengen Ordensleute, deren Obhut wir überlassen waren, aber auch die vorbildliche Solidarität meiner Mitstreiter.

      Am Morgen eines noch frühen, neblig-trüben Sonntags gab es für jeden von uns Internatsschülern zum Brot ein Stück streng riechenden Käses aus der Klosterkäserei. Wir aßen diese Käse nur ungern, da er durch seinen penetranten Geruch ein sehr aufdringlicher Begleiter war, der an den sonntäglichen Besuchstagen störend wirkte.

      Für jene, denen dieser Käse noch ein Unbekannter ist, muss ich kurz ausholen: Das Rezept dieser Käsesorte war vor über hundert Jahren von Benediktinermönchen in Münster, im Elsass, entwickelt worden. Um den Laib lange frisch und aromatisch zu halten, wurde der Käse alle zwei bis drei Tage in eine spezielle Lake eingelegt, einer nur den Mönchen der Käserei bekannten Rezeptur, bestehend aus Salzwasser, entrahmter Milch, Weißwein und Bier sowie aus speziellen Kräutern und Gewürzen. All dies geschah, um den Reifeprozess des Käses zu beschleunigen. Der Weichkäse war, bis auf die Rezeptur des Käsemantels, leicht herzustellen. Hinzu kamen die geringere Reifezeit gegenüber anderen Käsesorten und ein höherer Sättigungsgrad – Grund genug, dass der Münsterkäse häufiger als Grundnahrungsmittel auf den Tellern von uns Internatsschülern landete.

      An diesem Morgen nun fühlte ich wieder eine starke Sehnsucht nach zuhause, nach Omas hausgemachtem Pflaumenmus oder den leckeren Pfannenkuchen mit Zucker und Zimt von Muttern. Appetitlos, wie ich war, aß ich mein Stück Käse nicht, sondern wickelte es in eine Papierserviette und versteckte das Päckchen in meiner rechten Hosentasche.

      Nach dem Frühstück standen wir Schüler auf Anweisung unseres Präfekten auf und gingen zur Morgenandacht in die nahegelegene Marienkapelle. Leise und andächtig betraten wir das Gotteshaus und knieten uns nieder. Unsere Hände lagen gefaltet auf der Ablage der vor uns stehenden Gebetsbänke. Ich stand in der ersten Reihe, gleich am Anfang. Die Klasse nahm drei Reihen ein. Der letzte Platz gehörte unserem Präfekten, Laienbruder Fink. Er hatte ein wachsames Auge über seine jungen Schafe. Plötzlich vernahmen wir sein leises Zischen, das uns signalisierte, der Gottesdienst mit Pfarrer Schollmann, dem Direktor und Schulleiter des Internats, würde nun beginnen. Respektvoll schwiegen wir. Pfarrer Schollmann sang laut in lateinischer Sprache. Am Ende des eindrucksvollen Gebets murmelten wir „Dank sei Gott“. Nun wandte sich der Priester einem der Messdiener zu und ließ sich das Weihrauchfass reichen. СКАЧАТЬ