Название: Handbuch Medizinrecht
Автор: Thomas Vollmöller
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: C.F. Müller Medizinrecht
isbn: 9783811492691
isbn:
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Anfang 2019 stieß der SPD Gesundheitsexperte Karl Lauterbach die Diskussion um eine Impfpflicht zum Schutz vor Masern angesichts des weltweiten Anstiegs der gemeldeten Erkrankungen erneut an. Gesundheitsminister Jens Spahn nahm die Initiative auf. Am 1.3.2020 ist das Gesetz für den Schutz vor Masern zur Stärkung der Impfprävention in Kraft getreten. Die Regelungen finden sich jetzt in § 20 Abs. 8–14 IfSG. Darin wird u.a. für bestimmte Personenkreise, z.B. Kindergartenkinder und Schüler, eine Impfpflicht zum Schutz vor Masern eingeführt (dazu unten Rn. 26 f.). Das Meinungsbild hierzu ist sehr unterschiedlich.[5] In der früheren DDR gab es eine entsprechende Impfpflicht. Dies schlägt sich auch in Umfragen nieder. Die ostdeutsche Bevölkerung steht der (Wieder-)Einführung einer Impfpflicht wesentlich offener gegenüber als der Rest der Bevölkerung in der Bundesrepublik. Aber auch in der „alten“ Bundesrepublik gab es bis weit in die siebziger Jahre hinein – von vielen vergessen – eine Impfpflicht gegen Pocken, die im Übrigen vom Bundesverwaltungsgericht als mit dem GG vereinbar eingestuft wurde.[6] Sie wurde formell erst 1982 aufgehoben[7], nachdem die WHO Pocken weltweit als ausgerottet deklariert hat. Andere Länder in Europa, wie etwa Tschechien oder Italien, haben eine entsprechende Impfpflicht zum Schutz vor Masern, aber deshalb keineswegs eine bessere Durchimpfungsrate als Deutschland. Während die organisierte Ärzteschaft einer Impfpflicht wohl eher positiv gegenübersteht, sehen es einige Gesundheitspolitiker eher zurückhaltend, so etwa die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Hummel „Überzeugung ist besser als Zwang“. Ähnlich zurückhaltend äußert sich der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme v. 27.6.2019.
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Das Grundgesetz können Impfgegner wohl nicht für ihre Position in Anspruch nehmen.[8] Das gilt sowohl für Art. 2 Abs. 2, Art. 4 und Art. 6 Abs. 2 GG. Hinsichtlich Art. 2 Abs. 2 GG ist zunächst der Parlamentsvorbehalt gewahrt. Der Schutz der Bevölkerung vor aggressiv ansteckenden und gefährlichen Infektionskrankheiten, der nur mit einer Steigerung der Impfquote zur Herbeiführung der sog. „Herdenimmunität“ erfolgreich gewährleistet werden kann, hat auch verfassungsrechtlich einen hohen Stellenwert.[9] Die Impfung ist geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Das Risikopotential der Masernimpfung ist nachweislich verschwindend gering.[10] Das Grundrecht auf elterliche Sorge schützt nicht nur die Entscheidungshoheit der Personensorgeberechtigten, i.d.R. der Eltern, sondern verpflichtet sie auch, gesundheitliche Gefahren von ihren Schutzbefohlenen abzuwenden.[11] Vor dem Hintergrund des unbestreitbaren individuellen Nutzens der Impfung für den Impfling, gerade im Kleinkindalter, lässt die Verweigerung von Eltern, ihren Kindern diesen Schutz zuzubilligen und sich dabei auch noch auf Art. 6 Abs. 2 GG zu berufen, als rechtsmissbräuchlich einordnen.[12] Art. 4 GG wäre durch die Einführung einer Impfpflicht ebenfalls nicht verletzt. Dieses Grundrecht steht zwar nicht unter einem Gesetzesvorbehalt, ist jedoch keineswegs schrankenlos. So kann sich wohl niemand auf Art. 4 GG berufen, wenn seine Handlungen offensichtlich dem deutschen ordre publique widersprechen, wie etwa das Schächten von Tieren oder die Diskriminierung von Frauen oder die Vielweiberei[13]. Dies gilt im Hinblick auf die Impfdiskussion erst recht, wenn sie insoweit mit längst widerlegten Argumenten, Verschwörungstheorien und Leugnung epidemiologischer Erkenntnisse geführt wird.
Anmerkungen
BAnz. AT v. 27.12.2019, in Kraft seit 28.12.2019.
BGBl. I 2015, 1368; Welti Das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention – was bringt das Präventionsgesetz?, GuP 2015, 211 ff.
Zustimmend Schaks/Krahnert Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern – Eine zulässige staatliche Handlungsoption, MedR 2015, 860 ff.
BVerwG Urt. v. 22.3.2012 – 3 C 16.11, BVerwGE 142, 205; VG München Beschl. v. 24.3.2009 – 18 E 09.1208; VG Berlin Beschl. v. 11.3.2015 – 14 L 35.15 und 14 L 36.15; VG Hamburg Beschl. v. 18.2.2009 – 2 E 345/09; a.A. VG Gera Beschl. v. 16.4.2019 – 6 E 557/19, es gebe keine allgemeine Impfpflicht, aber einen Anspruch auf Gestellung eines Platzes in einer Kindertageseinrichtung.
Der SPIEGEL 14/2019 v. 30.3.2019, 13 ff.; für besondere Personengruppen z.B. Soldaten gab es schon bisher eine Impfpflicht, BVerwG Beschl. v. 24.9.1969 – I WDB 11.68, BVerwGE 33, 339.
BVerwG Urt. v. 14.7.1959 – I C 170, 56, BVerwGE 9, 78 ff.; so auch BGH Gutachten v. 25.1.1952 – VRG 5/51, BGHSt 4, 375.
Gesetz zur Aufhebung des Gesetzes über die Pockenschutzimpfung v. 24.11.1982, BGBl. I, 1529.
Schaks MedR 2020, 201; a.A. Rixen NJW 2020, 647, der allerdings nicht erwähnt, dass er Eltern und Impfgegener als Verfahrensbevollmächtigter im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen die Neuregelung vertritt; BVerfG Beschl. v. 11.5.2020 – 1 BvR 469/20, NJW 2020, 1946, Ablehnung einer einstweiligen Anordnung von Eltern, die ihre Kinder ohne Masernschutzimpfung in einer Gemeinschaftseinrichtung unterbringen wollen, allerdings ohne Vorwegnahme der Hauptsache.
Schaks/Krahnert MedR 2015, 860, 864, 865 m.w.N.; Sachs/Murswick/Rixen GG, Art. 2 Rn. 186.
Wahrscheinlichkeit 1:1.000.000.
Amhaouach/Kießling MedR 2019, 853 eher zurückhaltend.