Vom Lieben und vom Sterben. Bertram Dickerhof
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Название: Vom Lieben und vom Sterben

Автор: Bertram Dickerhof

Издательство: Bookwire

Жанр: Религия: прочее

Серия:

isbn: 9783429065263

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СКАЧАТЬ verkennt dabei die Person, mit der er hier und jetzt zu tun hat. Die Lücken seiner Welt schließt er durch Assoziationen und Verallgemeinerungen.17 Unpassendes versucht er an seine gewohnte Welt anzupassen – die sich dabei verändert in dem Maße, wie er sich durch das Unpassende stören lässt.

      Dass also die Jüngerinnen und Jünger Jesus in ihrem Bild von ihm verkannt haben, stellt nun sie selbst in Frage. Kein Wunder also, dass die Frauen von Schrecken und Entsetzen gepackt vom Grab fliehen. Doch nehmen sie als Aufgabe mit, nach Galiläa zu gehen, wo sie neu auf ihre Erlebnisse mit Jesus zurückblicken können in der Hoffnung, dass sie ihn dort sehen werden, wie er es gesagt hat. Dies alles den Aposteln mitzuteilen, fürchten sie sich. Durch die Infragestellung ihres Welt- und Selbstverständnisses drohen sie, wie in einen Abgrund zu stürzen. Sie können nicht sprechen. Doch in Galiläa sollen sie ein neues, bleibendes Lebensfundament erhalten. Galiläa, wo alles angefangen hat. Galiläa, wo viele Orte mit Erinnerungen an das Wirken Jesu verbunden sind. Dorthin zu gehen ist die Chance, ihre damaligen Begegnungen mit Jesus nun im Licht der Auferstehungsbotschaft neu zu verstehen, eine Aufgabe, die sich allen Zeitgenossen Jesu stellt: Auch wenn wir früher Christus dem Fleische nach gekannt haben, jetzt kennen wir ihn nicht mehr so. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2 Kor 5,16f). Die Perspektive ist wahrhaft ungeheuerlich. Sie ist das Ende der Welt, in der sie bisher so selbstverständlich gelebt haben, in der Gott und Mensch, Gerechter und Sünder, Tod und Leben fein auseinandersortiert waren. In der neuen Welt wohnt Gott, der geheimnisvolle Grund aller Wirklichkeit, allem inne und ist damit allem näher und innerlicher, als es je sich selbst sein kann. Allen Gegensätzen widerfährt Gerechtigkeit, sie werden gewürdigt und doch in Barmherzigkeit miteinander versöhnt. Das Leben lernt schon jetzt eine Erfüllung kennen, die bleibt und zunimmt.

      Halten wir einen Moment inne, um ein erstes Fazit aus unserem markinischen Osterevangelium zu ziehen: Die Idee „Auferstehung“ ist nichts, was der menschliche Verstand logisch erschließen oder sich in irgendeiner Weise ausdenken könnte. „Auferstehung“ ist eine vollkommen neue Möglichkeit, die mitgeteilt und empfangen werden muss. Das leere Grab Jesu wird zu einem dreifachen Symbol: Als Grab bezeichnet es zum einen die Grenze, die die Wirklichkeit dem Leben setzt: dem leiblichen Leben und immer wieder auch dem Leben, wie wir es uns vorstellen und wünschen. Wir stoßen an diese Grenze am Ende in unserem Sterben und während unseres Lebens in Enttäuschungen und Verlusten aller Art, in der Konkretheit einer geschichtlichen Situation, in der wir uns vorfinden, ob sie uns gefällt oder nicht. Aber gerade im Hineingehen in die Grenzsituation, im Annehmen der mit ihr verbundenen Gefühle, wie die Frauen das tun, wird das Grab Jesu, zweitens, zum Ort des Aufgehens göttlichen Lebens und göttlicher Wirklichkeit und zum Symbol einer beginnenden Verwandlung: Diese lässt das bisherige Selbst- und Weltverständnis zusammenbrechen. Das leere Grab wird so, drittens, auch zur Chiffre für das Sterben der eigenen Welt- und Selbstkonstruktionen.

      Werfen wir noch einen Blick darauf, wie Matthäus und Lukas, die beide das markinische Osterevangelium verarbeiten, mit ihrer Vorlage umgehen: Matthäus macht aus dem jungen Mann im weißen Gewand gleich einen Engel. Seine Frauen sind nicht nur voll Furcht, sondern auch voll großer Freude. Anders als die markinischen Frauen eilen [sie] zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft auszurichten. Auf dem Weg kommt ihnen Jesus entgegen. Sie gingen auf ihn zu, warfen sich vor ihm nieder und umfassten seine Füße (Mt 28,9). Der Auferstandene selbst erscheint ihnen, sie machen eine Erfahrung, es bleibt nicht bei der bloßen Idee und Möglichkeit von Auferstehung. Doch scheint der Prozess des Durchsäuert-Werdens des bisherigen Lebens durch den Sauerteig der neuen Wirklichkeit unverzichtbar. Denn der Auferstandene bestätigt die Aufforderung des Engels und schickt seine Jünger und Jüngerinnen nach Galiläa.

      Lukas nimmt größere Veränderungen vor: Nicht Galiläa. Die Jünger sollen in Jerusalem bleiben (Lk 24,49), wo der Auferstandene ihnen durch viele Beweise zeigt, dass er lebt; vierzig Tage hindurch ist er ihnen erschienen und hat vom Reich Gottes gesprochen (Apg 1,3). Auf diese Weise findet in Jerusalem der Prozess statt, zu dem Markus und Matthäus die Jünger nach Galiläa schicken: die Integration der Auferstehung ins eigene Welt- und Selbstverständnis. In der Auferstehungsbotschaft durch zwei Männer in leuchtenden Gewändern wiederholt Lukas die Leidensankündigung Jesu auf dem Weg nach Jerusalem: Der Menschensohn muss in die Hände sündiger Menschen ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen (Lk 24,7).

      Dieses Wort hatten die Jünger bisher ganz und gar nicht verstanden. Um dieses Wort dreht sich nun die Geschichte von den beiden Jüngern, die am Ostertag nach Emmaus unterwegs sind (Lk 24,13–35). Unerkannt begleitet der auferstandene Jesus den Weg der beiden, so wie der irdische Jesus – unerkannt letztlich auch er – seine Jünger nach Jerusalem begleitet hatte. Der Unterschied ist, dass für die Emmausjünger inzwischen Wirklichkeit und damit besprechbar geworden ist, was für die Zwölf auf dem Weg nach Jerusalem unter keinen Umständen geschehen durfte und worüber nicht gesprochen werden konnte: der Tod Jesu. Dieser Tod erscheint nun, nachdem er eingetreten ist und die Jünger ihre Passion durchleben, in der Gegenwart des Auferstandenen nicht mehr nur als Verhängnis, sondern als göttliche Notwendigkeit: Musste nicht der Christus all das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? (24,26). Obwohl dieser Satz den Emmausjüngern Hoffnung und Perspektive eröffnet, braucht es den Gang durch die ganze Schrift, durch Mose und alle Propheten, damit sein Inhalt sie erreicht. Den beiden brennt das Herz. Doch erst am Abend, beim Brechen des Brotes, als im Zeichen vollzogen wird, was Jesus am Kreuz in Liebe und Barmherzigkeit ausgelitten hat, gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn (24,31). Jetzt erst werden sie der Präsenz inne, die „da war“ auf ihrem ganzen Weg. Sie hatte sie Worte für das Selbstverständliche, das sie so sehr bewegt hatte, finden und aussprechen lassen. Sie hatte sie einander begegnen und ihre Herzen brennen lassen.

      Was bedeutet nun dieser Satz: Musste nicht der Christus all das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen?

      Er besagt, dass nicht Vermeiden und Abwehren, sondern Hineingehen in die Grenzsituation und sie durchleben der Weg zu Erfüllung und Vollendung ist. Über Grenzsituationen verfügt man nicht, man kann sie nicht herstellen, sie kommen auf einen zu. In sie hineinzugehen und sie zu durchleben heißt, Enttäuschung oder Verlust zu erleiden, da die Grenze ja darin besteht, dass die eigene Wunschvorstellung von einer Situation sich nicht erfüllt. Dass darin der Weg zur Erfüllung liegen soll, ist dem „gesunden Menschenverstand“ völlig entgegengesetzt. Es durchkreuzt das Prinzip, das Gefällige zu erstreben und das Missfällige zu vermeiden oder abzuwehren. Unabhängig von Gesellschaftsschicht, Bildungsgrad, moralischem oder sozialem Status erschallt vor dem Kreuz Jesu unisono die Überzeugung, dass ein „echter“ Messias vom Kreuz heruntersteigen könne und würde, d. h. die Macht habe, das Missfällige abzuwehren und das Gefällige herzustellen: Die Leute, die [vor dem Kreuz Jesu] vorbeikamen, verhöhnten ihn, schüttelten den Kopf und riefen: Ach, du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Rette dich selbst und steig herab vom Kreuz! Ebenso verhöhnten ihn auch die Hohepriester und die Schriftgelehrten und sagten untereinander: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Der Christus, der König von Israel! Er soll jetzt vom Kreuz herabsteigen, damit wir sehen und glauben. Auch die beiden Männer, die mit ihm zusammen gekreuzigt wurden, beschimpften ihn (Mk 15,29–32 par). Wer irgendeine Machtressource hat – dem Messias, dem König von Israel, dem Christus, müssten sie in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen –, der nutzt sie, um Ohnmacht, Leiden, Schmerz, Tod zu entgehen; der steigt herab vom Kreuz; der lässt nicht geschehen, was geschieht, wenn es unangenehm oder gar leidvoll wird; der wehrt sich mit allen Kräften dagegen.

      Nicht aber so Jesus Christus, der in das Missfällige – seine Passion – hineingeht und so – und nur so – seine Herrlichkeit erlangt, die jedes Gefällige über-erfüllt.

      Das heißt nun nicht, dass das Evangelium uns ganz generell zum Leiden auffordert. Es geht ihm nicht um eine süßliche Leidenssüchtigkeit; eine solche ist schräg! Es geht auch nicht um die Anpreisung von Opfern, die man suchen und bringen soll. Sondern, und darin besteht das zweite Fazit aus unserem Osterevangelium, es geht um die Entmachtung des СКАЧАТЬ