Название: Vom Lieben und vom Sterben
Автор: Bertram Dickerhof
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783429065263
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Allerdings gibt es auf der anderen Seite immer wieder Ereignisse, die die Jünger als Bestärkung ihres Glaubens an den politischen Messias auffassen: Hatten doch drei von ihnen Jesus in göttliches Licht getaucht im Dialog mit Mose und Elija auf dem Berg der Verklärung gesehen und die Stimme aus der Wolke gehört, die ihn ihren geliebten Sohn nennt, auf den die Jünger hören sollen (Mk 9,2–10). Oder als Jesus als messianischer Friedenskönig in Jerusalem einzieht und die Leute rufen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe! (Mk 11,9). Das war doch Wasser auf die Mühle ihres Messiasverständnisses. Gleichgesinnte und Gegner teilten ihre Vorstellung vom Messias Jesus, und seine Ankläger werden diesen Einzug nutzen, um Jesus vor Pilatus als politischen Aufrührer hinzustellen. Als Jesus Händler und Käufer aus dem Tempel warf und die Stände der Geldwechsler und Taubenverkäufer umstieß mit den Worten: Heißt es nicht in der Schrift: mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht (Mk 11,17) – war das nicht die Kampfansage des Messias an die Adresse der Hohenpriester und der Schriftgelehrten? Diese verstanden es jedenfalls so und suchten nach einer Möglichkeit ihn umzubringen. Denn sie fürchteten ihn, weil alle Leute von seiner Lehre sehr beeindruckt waren (Mk 11,15–19).
Schwankend zwischen Angst und Zuversicht, ob der „Menschensohn“ – dieses Wort gebraucht Jesus für sich selbst – tatsächlich am Ende untergehen und sterben wird und sie als seine Jünger womöglich mit ihm (Joh 11,16) oder ob er als Messias und König von Israel mit ihnen zu seiner Rechten und Linken (Mk 10,37) die Herrschaft übernimmt, gingen sie mit ihm nach Jerusalem hinauf, ahnend, dass dort eine Entscheidung fallen wird zwischen leidendem Menschensohn und politischem Messias.
Alles in allem sind die Tage des galiläischen Frühlings und des ungebrochenen Vorschussvertrauens der Jünger in Jesus vorbei. Als eine Frau ihn mit kostbarem Öl salbt, fahren die Jünger6 diese harsch an: Wozu diese Verschwendung? Man hätte das Öl um mehr als dreihundert Denare verkaufen und das Geld den Armen geben können. Indirekt treffen sie damit auch Jesus, der diese Verschwendung nicht nur zulässt, sondern auch verteidigt (Mk 14,4f). Tatsächlich entspricht die Summe von dreihundert Denaren dem, was ein Tagelöhner damals in einem Jahr verdienen konnte, heute etwa 24.000 Euro, wenn man einen Lohn von 10 Euro pro Stunde zu Grunde legt. Doch handelt es sich wirklich um eine Verschwendung? Oder ahnt die Frau, dass Jesu Tod am Kreuz als Hingabe seines Leibes für euch (1 Kor 11,24) derart verschwenderisch ist, jedes menschliche Maß so maßlos übersteigt, dass sie durch ihre „verschwenderische“ Tat die Einzigartigkeit dieser Hingabe und dieser Person würdigen will? So scheint Jesus sie zu verstehen, wenn er sagt: Die Armen habt ihr immer bei euch und ihr könnt ihnen Gutes tun, sooft ihr wollt; mich aber habt ihr nicht immer. Sie hat getan, was sie konnte. Sie hat im Voraus meinen Leib für das Begräbnis gesalbt (Mk 14,7–8).
Wie weit die innere Entfremdung gediehen ist, zeigt folgende Begebenheit beim letzten Abendmahl: Als Jesus davon spricht, dass ihn einer der Zwölf verraten wird, da wurden sie sehr traurig und einer nach dem andern fragte ihn: Bin ich es etwa, Herr? (Mt 26,21). Sie zweifeln nicht nur an Jesus, sondern tragen ihm gegenüber auch Ablehnung und vielleicht sogar Hass in ihrem Herzen, so dass sich keiner sicher ist, ob nicht er selbst es sein wird, der Jesus verrät. Jeder hat Anteil an Judas, der den Behörden den Aufenthaltsort Jesu anzeigt. Als Jesus seinen Jüngern nur ein paar Stunden später ohne jeden Vorwurf voraussagt, dass sie Anstoß an ihm nehmen werden, was sie doch de facto schon seit längerem tun, reagieren sie darauf wie bei den Leidensankündigungen Jesu: Sie blocken ab – umso mehr, als sie sich ertappt gefühlt haben werden: Was als unangenehm und unpassend erscheint, was dem Anschein nach nicht sein darf oder peinlich ist, was stört oder gar Angst macht, wird unter den Tisch gekehrt. Es scheint dann weg zu sein. Petrus kann mit voller Überzeugung behaupten: Auch wenn alle Anstoß nehmen – ich nicht! Jesus sagte ihm: Amen, ich sage dir: Heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Petrus aber beteuerte: Und wenn ich mit dir sterben müsste – ich werde dich nie verleugnen. Das Gleiche sagten auch alle anderen (Mk 14,27–31). Sie möchten zu ihm stehen, gleich was kommt. Da ihr guter Wille aber mit ihren Zweifeln an Jesus, ihrem Unverständnis, ihrer Kritik an ihm, ja Ablehnung und ihrer Angst vor den Juden nicht verbunden ist, steht dieser Wille auf tönernen Füßen: Sie werden ihr Versprechen nicht halten können.
Und in der Tat ist es schon aus, als Jesus Petrus, Johannes und Jakobus bittet, ihm in seiner Todesangst beizustehen und mit ihm zu wachen. Wer würde das nicht für seinen Freund tun, wenn dieser in seiner Not so klar darum bittet? Dies wollen auch die drei Jünger im Garten Getsemani. Sie hatten eben erst versprochen, bei ihm zu bleiben. Sie wollen es, aber sie können es nicht. Sie vermögen einfach nicht mehr, sich wach zu halten. Zu groß ist die Spannung. Die Augen waren ihnen zugefallen (Mk 14,40; Mt 26,43), vor Kummer erschöpft (Lk 22,45). Sie sind am Ende. Aufgebraucht ist ihre Kraft, die vermiedenen und ungelösten Spannungen zu ertragen. Die Dämme, durch die sie sich selbst und ihre Liebe zu Jesus schützen wollten, brechen vollends ein, als die Häscher kommen. Sie kapitulieren und fliehen. Außer Petrus. Er reißt sich zusammen, überwindet seine Angst und setzt sich der feindlichen Umgebung des hohepriesterlichen Hofes aus, um bei Jesus zu sein. Doch seine verdrängten Gefühle und Bedürfnisse unterminieren die Mauer aus Willen und Vorstellung: Petrus verleugnet Jesus dreimal mit wachsender Aggression gegenüber denen, die ihn in Frage stellen (Mk 14,71). Als er merkt, was geschehen ist, was er getan hat, bricht er zusammen und kapituliert ebenfalls.
Wir wissen nicht, was mit den Zwölfen – das war der Name für den Kreis der zwölf Apostel auch nach dem Weggang des Judas – geschieht. Es sind die Jüngerinnen Jesu, die Frauen, die unter seinem Kreuz stehen oder aus der Ferne Anteil an seinen Leiden nehmen und den Verstorbenen zu seinem Grab begleiten. Bei alledem sind die Zwölf nicht dabei!7 Ihr Fehlen mag Zeichen ihres mangelnden Mutes sein und Ausdruck des Anstoßes, den sie an Jesus nehmen. Doch geht die Bedeutung ihres Fernbleibens weit darüber hinaus: Denn bei Markus und Matthäus verschwinden die Zwölf als Handlungssubjekte komplett aus der Geschichte. Am radikalsten bei Markus: Kein einziger ihrer Namen taucht in seinem Evangelium noch einmal auf. Bei Matthäus finden wir sie erst Tage oder Wochen später wieder auf einem Berg in Galiläa, auf dem ihnen der Auferstandene erscheint, ein Widerfahrnis, das sich ohne ihr Zutun ereignet. Das Verschwinden der Zwölf als Akteure aus dem Evangelium erinnert an die Sterndeutergeschichte und das Verschwinden der Magier aus ihr in Jerusalem. Die Magier wie die Zwölf – sie sind wie aus der Geschichte gefallen, wie vom Erdboden verschluckt, wie gestorben und begraben mit dem, den sie suchten bzw. dem sie folgten. Und in der Tat wird dieses Ende Jesu den Zwölfen den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Nicht nur ihre menschlichallzumenschlichen Hoffnungen auf gutes Auskommen, Einfluss und Ansehen zur Rechten und Linken des regierenden Messias sind in den Abgrund des Nichts gefallen. Nicht nur erleiden sie den Verlust eines Menschen, der ihnen nahe war, den sie geliebt haben. Vielmehr ist alles in Frage gestellt, was sie in allen Zweifeln und Prüfungen bei Jesus bleiben ließ: die Verheißung ewigen Lebens, ihr Glaube, dass durch ihn das Reich Gottes kommt. Denn kein Gott tritt hervor und wendet das Blatt der Geschichte, vertreibt die Heiden und die Sünder, stellt das Reich Davids wieder her. Im Gegenteil: Römer und Herodes behaupten sich. Und das Rad der Geschichte dreht sich weiter, wie es sich immer gedreht hat, die Welt wird nicht gerichtet und anscheinend beginnt auch kein neuer Äon. Gott hat geschwiegen, hat Unrecht und Böses geschehen lassen. Wieder einmal, wie so oft. Oder hatte er gar Jesus verlassen (Mk 15,34)? Konnte es denn sein, dass „ihr“ Jesus von Gott verflucht war, wie es in der Torah geschrieben steht: ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter (Dtn 21,23c)? Sollte es denn möglich sein, dass Jesus, der doch Worte ewigen Lebens hatte, wie ihnen schien, sie nicht zu Gott, dem Ziel der menschlichen Sehnsucht, sondern in die Gottferne führte, in der sie ja nun tatsächlich saßen? War Jesus doch der Gotteslästerer, der sich zum Sohn Gottes gemacht hatte, als den der Hohe Rat ihn verurteilt hatte? Verwirrung, Angst, Ohnmacht, Sinn- und Perspektivlosigkeit … Passion und Tod Jesu befördern sie unversehens aus dem Raum des Außen und der historischen Ereignisse in den Raum des Innen, der Bewusstheit von Gedanken und Gefühlen, Empfindungen, inneren Bewegungen, geistigen Gegebenheiten, СКАЧАТЬ