Название: Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie
Автор: Christopher Germer
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783867812313
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Große Denker im Westen haben Weisheit als ein Zusammenwirken kognitiver Fähigkeiten verstanden, wobei bei der Beschreibung die Vernunft (Frances Bacon, 1596–1626; Descartes 1596–1650; Plato), das Wissen von Gott (Locke, 1632–1704) oder gerechtes Handeln (Kant, 1724– 1804; Montaigne, 1533–1592) (Birren & Svensson, 2005) besonders betont wurde. Zu diesem Zusammenwirken gehörte sowohl der Erwerb von Wissen wie auch die Entwicklung der Fähigkeit, sie in der Welt effektiv zu nutzen.
Östliche Weisheitstraditionen sind anders orientiert. Sie betonen die transformative Kraft von Weisheit, die darin besteht, dass sie sich positiv auf unsere kognitiven, intuitiven, affektiven und zwischenmenschlichen Erfahrungen auswirkt (Takahashi & Overton, 2005). Die frühesten schriftlichen Fassungen asiatischer Weisheitslehren sind die Upanishaden, die zwischen 800 und 500 v. Chr. (Durant, 1956) aufgezeichnet wurden. Hier beschreiben die gesammelten Geschichten von Heiligen und Weisen Weisheit, die sich nicht nur von faktischem Wissen unterschied, sondern auch transzendente spirituelle Erfahrungen enthielt, die über die der vertrauten sinnlichen Welt hinausgehen. Etwa um 600 v. Chr. tauchte die vielgestaltige Sammlung von Lehren, die man unter dem Begriff Taoismus zusammenfasst, in China auf. In dieser Tradition werden Intuition, Mitgefühl und vor allem ein ausgewogenes Leben in Harmonie mit den Gesetzen der Natur als die Essenz von Weisheit gesehen. Logisches Denken, Vernunft und Sitten gelten danach als verdächtig – weil sie zu leicht von engem Eigeninteresse beeinflusst werden und man von dem Ganzen der Natur entfremdet werden kann (Birren & Svensson, 2005). Bald darauf, ebenfalls in China, lehrte Konfuzius (551–479 v. Chr.), dass eine moralische Lebensführung und Erhalten der sozialen Ordnung Kennzeichen von Weisheit seien (Baltes, 2004; Birren & Svensson, 2005).
So einflussreich diese Weisheitstradition bei der Ausbildung der Kultur Asiens gewesen sind, es sind die Lehren des Buddha (5.–4. Jh. v. Chr.), die gegenwärtig die unmittelbarste Wirkung auf westliches psychologisches Denken und seine Praxis haben – vor allem durch die Verbreitung achtsamkeitsbasierter Behandlungsmethoden. Wie wir gleich sehen werden, wird in buddhistischen Lehren Weisheit als Einsicht sowohl in die Muster der natürlichen Welt als auch in die Formen gesehen, wie konventionelle geistige Gewohnheiten Leiden erzeugen. Wie in der taoistischen Tradition werden Vernunft und angehäuftes Wissen als weniger wichtig denn intuitive Einsicht gesehen. Einsicht kann demnach unsere Erfahrung wie auch unser Verhalten radikal transformieren.
Weisheit in der westlichen Psychologie
Vor dem Hintergrund der Bedeutung und Wichtigkeit von Weisheit im westlichen Denken überrascht es, wie wenig die Theoretiker der Traditionen der akademischen Psychologie wie auch der Psychotherapie über sie zu sagen hatten. Dies fällt besonders auf, wenn man bedenkt, dass in alter Zeit „weise“ Menschen die Therapeuten waren – die Leute holten routinemäßig bei ihnen Rat, wenn sie von Schwierigkeiten des Lebens betroffen waren.
Traditionelle Kompendien psychologischen Wissens, wie das Handbook of General Psychology (Wolmann, 1973) oder An Intellectual History of Psychology (Robinson, 1995) erwähnen das Thema gar nicht. Obwohl William James philosophisch orientiert war, thematisierte er Weisheit weder in The Principles of Psychology (1890/2007) noch in The Varieties of Religious Experience (1902/2010), in denen er zwar zahlreiche religiöse Texte zitiert, die das Wort verwenden, aber Weisheit selbst nie untersucht. Sigmund Freud erwähnt das Wort in seinen umfangreichen Schriften kaum, obwohl er von vielen als weiser Meister betrachtet wurde.* C. G. Jung, der ebenfalls wegen seiner Weisheit geschätzt wird, beschreibt transzendente Erfahrungen und bespricht die Traumbilder und mythischen Gestalten des „weisen alten Mannes“ und der „weisen alten Frau“, aber schreibt weder über Weisheit an sich noch wie man sie entwickelt.
Unter den frühen wichtigen Theoretikern war Erik Erikson (1999) der Erste, der Weisheit ausführlich besprochen hat. Er beschrieb sie als das Ergebnis erfolgreicher Bewältigung der achten und abschließenden Stufe menschlicher Entwicklung: „Integrität des Ego vs. Verzweiflung“. In späteren Schriften lieferte er mehr Einzelheiten und beschrieb Weisheit als ein „informiertes und distanziertes Interesse am Leben an sich“ oder als ein „wahrhaft engagiertes Nichtengagement“ (Erikson & Erikson, 1982/1995). Mit Eriksons Vorstellung, Weisheit habe mit einer erfolgreichen Bewältigung von Aufgaben der Entwicklung zu tun, ist die Schlussfolgerung George Vaillants verwandt, der die Harvard Study of Adult Development durchführte: „Reife von Abwehrmechanismen“, die sich mehr im Verhalten von Menschen als in ihren Worten spiegele, sei das beste Maß für Weisheit (2003, S. 255). Reife Abwehrmechanismen wie Humor, Sublimierung und Altruismus tendieren dazu, einem selbst und anderen Wohlbefinden zu bringen, während weniger reife Abwehr wie Projektionen, Hypochondrie und passiv-aggressives Verhalten eher Kummer und Leiden verursachen.
Von den wichtigeren Theoretikern der Psychologie hat Abraham Maslow wahrscheinlich am meisten zu unserem Verständnis von Weisheit beigetragen, obwohl auch er den Begriff nicht sehr ausführlich besprochen hat. Die „selbst-aktualisierenden“ Individuen, die er untersuchte, um seine Hierarchie der Bedürfnisse zu entwickeln, nehmen Realität und Fakten an, statt die Wahrheit zu verleugnen, sie sind spontan, fokussieren auf Probleme außerhalb ihrer selbst, können ihre menschliche Natur mit all ihren Mängeln annehmen, neigen dazu, andere zu akzeptieren, wie sie sind, und sind ohne Vorurteile (Maslow & Lowry, 1973). Wie wir sehen werden, werden diese Eigenschaften und Züge weithin als wichtige Komponenten von Weisheit anerkannt.
Trotz der historischen Vernachlässigung durch die westliche Psychologie hat in jüngerer Zeit ein wachsendes theoretisches Interesse an den Bedingungen der Möglichkeit lebenslanger Entwicklung und in der Folge an positiver Psychologie (das Studium von Glück) eine kleine, engagierte Gruppe Theoretiker und Forscher dazu angeregt, Weisheit gezielt zu untersuchen (Hall, 2007; Sternberg, 1990a; Sternberg & Jordan, 2005).
Empirische Forschung
Die empirische Forschung auf diesem Gebiet begann mit einer Dissertation von Vivian Clayton im Jahre 1976. Sie hatte sich vorgenommen zu untersuchen, was Weisheit sein könnte und ob es einen Einfluss von Alter auf Weisheit gäbe (Hall, 2007). Um Weisheit zu definieren, studierte sie alte westliche Texte, und kam zu dem Ergebnis, dass Weisheit allgemein darin besteht, dass Wissen erworben, auf menschliche soziale Situationen angewendet und reflektiert wird und dass Urteilskraft dazu kommt, um Entscheidungen zu treffen, die von Mitgefühl beeinflusst sind. Sie versuchte dann, mithilfe schon existierender psychologischer Tests Weisheit zu messen, und gelangte zu der Schlussfolgerung, dass Weisheit, anders als viele andere kognitiven Fähigkeiten, der Erosion durch Zeit widersteht und mit dem Alter sogar zunehmen kann (Hall, 2007).
In den frühen 1980er Jahren begründete Paul Baltes, ein Pionier der Psychologie lebenslanger Entwicklung (lifespan developmental psychology), das Berliner Weisheitsprojekt, das zu dem umfangreichsten Programm zur Untersuchung von Weisheit im Laboratorium wurde, das es bis heute gibt. Er und seine Kollegen definierten Weisheit als „hoch geschätzte und herausragende Expertise im Umgang mit fundamentalen … Problemen, die mit dem Sinn des Lebens und mit Lebensführung zu tun haben“ (Kunzmann & Baltes, 2005, S. 117). Sie untersuchten Weisheit, indem sie Probanden mit offenen, hypothetischen Situation konfrontierten und sie aufforderten, „laut darüber nachzudenken“, wie sie reagieren könnten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass diejenigen, deren Antworten im Vergleich mit anderen Aspekte von Weisheit zeigten – wie reiches Faktenwissen und prozedurales Wissen, inneren Abstand, Toleranz und Akzeptanz von Unsicherheit –, tendenziell weniger „selbstbezogen“ waren und weniger Interesse daran hatten, selbst ein angenehmes und komfortables Leben zu führen. Diesen „weisen“ Menschen ging es mehr um persönliches Wachstum und Einsicht und um Werte, die andere Menschen berücksichtigen, zum Beispiel um „Umweltschutz, gesellschaftliches Engagement und das Wohlbefinden von Freunden“ (Kunzmann & Baltes, 2005, S. 126). Weise Menschen ziehen auch beim Management von Konflikten kooperative Ansätze anderen Ansätzen vor, СКАЧАТЬ