Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie. Christopher Germer
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie - Christopher Germer страница 13

Название: Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

Автор: Christopher Germer

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная психология

Серия:

isbn: 9783867812313

isbn:

СКАЧАТЬ 13) zu bekommen – die Nichtexistenz eines getrennten, stabilen Selbst oder einer getrennten stabilen Identität. Diese Einsicht ist mit der Einsicht in das verwandt, was spätere buddhistische Traditionen als shūnyatā oder Leere bezeichnen: die Beobachtung, dass alle wahrgenommenen Phänomene in wechselseitiger Abhängigkeit von allen anderen Phänomenen entstehen und dass ihre scheinbar getrennte Natur eine Konstruktion unseres konzeptuellen Denkens ist. Achtsamkeitsübungen helfen uns, diese wechselseitige Abhängigkeit zu sehen, indem sie sichtbar werden lassen, dass alle Erfahrung in beständigem Fluss ist, wobei unser Geist unablässig Begriffe erzeugt, um diesen Fluss zu dem zu organisieren, was wir für die konventionelle Realität halten. Wir nehmen wahr, dass wir, wie der Neurowissenschaftler Wolf Singer (2005) es formuliert, „ein Orchester ohne einen Dirigenten“ sind. Dieses Bewusstsein hilft uns nicht nur, Weisheit im buddhistischen Sinn zu entwickeln – Einsicht in die Art und Weise, wie die Dinge wirklich sind –, sondern es löst auch die Barriere zwischen „mir“ und „mein“ und „dir“ und „dein“ auf, was zu Mitgefühl, einem anderen Eckstein von Weisheit, führt.

      Beobachtung der Eigenheiten des Denkens von Moment zu Moment

      Während Achtsamkeitspraxis zu einer radikalen Neubewertung dessen führen kann, wer wir zu sein meinen, erhellt sie daneben gewöhnlich auch das, was von einem psychodynamischen Ansatz aus Abwehrmechanismen genannt wird. Wenn wir wahrnehmen, was wir in jedem einzelnen Moment denken, sehen wir, wie oft wir auf andere projizieren und wie schwer es ist, sie so zu sehen, wie sie sind. Wir nehmen wahr, wie wir in unserem Denken Klischees benutzen, bewerten, eifersüchtig konkurrieren, idealisieren, schlecht machen und alle möglichen anderen nicht so schönen Dinge tun, die zur menschlichen Natur gehören. Wenn wir diese innere Aktivität betrachten, ermöglicht uns das, über unsere Reaktionen auf die Dinge zu reflektieren, und wir können allmählich die introspektive innere Haltung und das Selbstverständnis entwickeln, die weitere Bestandteile von Weisheit sind.

      Sehen, wie das Denken Leiden erzeugt

      Achtsamkeitsübungen wurden auch entwickelt, um erkennen zu können, wie das Denken Leiden erzeugt und wie dieses Leiden erleichtert und überwunden werden kann (R. Siegel, 2011). Unser Denken ist permanent mit Vergleichen beschäftigt und wertet und strengt sich an, die Dinge „genau richtig“ zu machen und dann zu versuchen, sie daran zu hindern, sich zu verändern. Unsere Versuche, angenehme Augenblicke festzuhalten und unangenehme zu vermeiden oder zu verdrängen, scheitern unvermeidlich und führen zu endlosem Leid. Im einen Moment gewinnen wir, aber im nächsten Moment verlieren wir. Einsicht in diese Prozesse, die spontan bei der Achtsamkeitspraxis entstehen, vermittelt uns ein reiches Verständnis von der menschlichen Natur – eine Dimension von Weisheit, die für die therapeutische Praxis besonders wichtig ist.

      Gegensätze annehmen

      Wenn wir aus dem Gedankenstrom heraustreten und die Aktivität des Denkens von Moment zu Moment beobachten, sehen wir, dass unsere lieb gewonnenen Ansichten der Realität – „Ich bin schlau“, „Ich bin dumm“, „Ich bin freundlich“ – rein mentale Konstruktionen sind. Dieses Verständnis kann uns helfen, die Sichtweisen anderer eher zu tolerieren und kooperative Lösungen für Konflikte zu finden – beides sind häufig erwähnte Dimensionen von Weisheit.

      Achtsamkeit kann uns auch helfen, verschiedene Ebenen der Realität zugleich anzunehmen. Wir können ein Bewusstsein davon haben, was die buddhistische Psychologie als absolute Realität beschreibt: Leere und anattā (die wechselseitige Verbundenheit aller Phänomene und das Fehlen eines getrennten stabilen „Selbst“), anicca oder Vergänglichkeit (die Tatsache, dass alle Phänomene in ständigem Fluss sind) und dukkha oder Leiden (wie das Denken Leiden erzeugt, indem es an angenehmen Erfahrungen hängt und unangenehme vermeidet oder verdrängt). Zugleich können wir uns der konventionellen oder relativen Realität bewusst sein: der Tatsache, dass wir natürlich uns und unsere Nächsten schützen wollen; wir wollen gesund, sicher und geliebt sein; wir haben Angst vor dem Unbekannten; wir haben natürliche sexuelle und aggressive Triebe sowie alle anderen Tendenzen, die uns menschlich machen. Wir werden in diesem Buch immer wieder sehen, dass es besonders wichtig ist, diese beiden Ebenen anzunehmen, wenn man als Therapeut weise handeln möchte. Manchmal ist es für unsere Patienten wichtig, dass wir ihre gewöhnliche emotionale Erfahrung verstehen, und zu anderen Zeiten ist es für sie wichtig, dass wir das Gesamtbild sehen und verstehen, wie Denken Leiden erzeugt, indem es absolute Realität nicht wahrnimmt.

      Mitgefühl entwickeln

      Einige Definitionen von Weisheit schließen auch Mitgefühl mit anderen ein (Ardelt, 2004; Clayton, 1982; Meeks & Jeste, 2009). Umgekehrt gehört zu wirklich mitfühlendem Handeln auch Weisheit, damit man diejenigen, denen man zu helfen versucht, nicht unabsichtlich schädigt. Wie früher besprochen kann Achtsamkeitspraxis eine große Unterstützung sein, wenn man Mitgefühl kultivieren will, und zwar zum Teil, weil wahrnehmbar wird, wie verbunden wir miteinander sind. Wenn wir die Fähigkeit besitzen, inmitten allen Leidens Frieden zu empfinden, dann sehen wir, dass andere Menschen ebenfalls leiden, und wir empfinden spontan den Impuls, anderen zu helfen, so wie die rechte Hand der linken Hand hilft, wenn sie verletzt ist. Die Erfahrung wechselseitiger Verbundenheit und Empfinden von Mitgefühl sind fundamental untrennbar. Der indische Weise Atisha hat es im zehnten Jahrhundert so formuliert: „Das höchste Ziel der Lehren ist die Leere, deren Wesen Mitgefühl ist“ (Harderwijk, 2011).

      Andere wege zur weisheit

      Ein Aspekt von Weisheit entsteht nicht auf natürliche Weise aus Achtsamkeitspraxis: Das Wissen und die Erfahrung, die man braucht, um konkrete weltliche Probleme zu lösen. Es ist unwahrscheinlich, dass man lernt, ein Auto zu reparieren, eine Fremdsprache zu sprechen oder einen chirurgischen Eingriff klug durchzuführen, indem man einfach auf einem Meditationskissen sitzt. Diese Aspekte von Weisheit erwirbt man natürlich durch konventionelle Methoden wie Selbststudium, Berufsausbildung und Lehrzeit.

      Viele Praktiken, die bestimmt sind, Weisheit zu kultivieren, sind mit einem theologischen Rahmen verbunden, der den Glauben an ein göttliches Wesen und/oder einen anderen Glauben verlangt. Im Gegensatz dazu wurden Achtsamkeitsübungen in buddhistischen Traditionen mit einer inneren Haltung verfeinert, die mit dem Pāli-Wort ehipassiko bezeichnet wird: Komm und sieh selbst. Diese Haltung passt gut zu modernen psychologischen Einstellungen, die die beobachtete Erfahrung einer Lehrmeinung vorziehen. Dies soll aber nicht heißen, dass andere Mittel der Kultivierung von Weisheit, auch solche, die aus westlichen und anderen östlichen religiösen Traditionen stammen, nicht ebenfalls für die Psychotherapie von Bedeutung sein können (siehe Kapitel 22). Man kann sich leicht vorstellen, dass viele verschiedene Formen kontemplativer Praxis sowie viele verschiedene Arten von Therapie die Entwicklung der inneren Haltungen und Fähigkeiten, die wir hier besprechen, unterstützen können.

      Weisheit ist auch ansteckend. Im Laufe der Geschichte haben Menschen aus genau diesem Grund Kontakt mit großen Lehrern und Weisen gesucht. Und viele, die zu Weisheit gelangt sind, weisen darauf hin, wie sehr die Begleitung durch Mentoren ihre Entwicklung beeinflusst hat. Dass Weisheit im therapeutischen Prozess vermittelt werden kann, ist einer der Gründe, weshalb es wichtig ist, einen weisen Therapeuten zu haben. Untersuchungen zeigen zudem, dass sich die Werte von Klienten mit der Zeit zunehmend an die ihrer Therapeuten angleichen (Williams & Levitt, 2007).

      In gewissem Maß kann Weisheit auch durch Bücher erworben werden. Aber es scheint so zu sein, dass die meisten Aspekte von Weisheit – Sehen, wie der Geist Realität konstruiert, Lernen zu ertragen, was persönlich unangenehm ist, Entwickeln der Fähigkeit zu emotionaler Regulierung, Erleben von Anteilnahme und Mitgefühl, Sehen der wechselseitigen Bezogenheit aller Erscheinungen, Entwickeln von Selbst-Verständnis und tiefer Wertschätzung der menschlichen Natur –persönliche introspektive Disziplin verlangen.

      Zwei Flügel eines Vogels

      Im tibetischen Buddhismus werden Weisheit und Mitgefühl als die „zwei Flügel eines Vogels“ СКАЧАТЬ