Auf einer absoluten Ebene sind Weisheit und Mitgefühl untrennbar. Kurz vor seinem Tod sagte Thomas Merton (2008): „Die Vorstellung von Mitgefühl … beruht ganz auf einem scharfen Bewusstsein der wechselseitigen Abhängigkeit oder Interdependenz aller dieser Lebewesen, die alle Teile voneinander sind und alle miteinander zu tun haben“ (S. 30). Bei einem buddhistischen Freund klingt eine ähnliche Vision an: „Bei Weisheit geht es um Eindringen in die letzte Wahrheit und Bleiben in dieser Wahrheit, während Mitgefühl die Bewegung des Herzens von diesem tiefen Verständnis aus ist, um mit den Höhen und Tiefen und Kämpfen des Lebens in Berührung zu sein, während es sich entfaltet“ (Chodon, persönliche Mitteilung).
Wir hoffen, dass diese Einführung in Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie Ihr Interesse geweckt hat und sie anregt, weiterzulesen. Es ist oft am leichtesten, etwas zu lernen, wenn man ein gewisses Verständnis von den Bestandteilen und den Methoden hat, die andere verwendet haben, die den Weg vor uns gegangen sind. Auf den folgenden Seiten werden Sie verschiedene Sichtweisen von Mitgefühl und Weisheit, verschiedene Formen und Möglichkeiten, wie man sie kultivieren kann, und konkrete Hinweise auf Formen der Anwendung finden, die wir als Therapeuten nutzen und Patienten anbieten können. Wenn wir zusammen die vielen Facetten dieser höchsten menschlichen Potentiale betrachten, entdecken wir vielleicht Wege, wie wir mit mehr Weisheit und Mitgefühl leben können, sodass wir, unsere Patienten und alle anderen ein glücklicheres, gesünderes und sinnvolleres Leben führen können.
* Auf der Grundlage einer Suche nach dem Stichwort Weisheit in Freuds Schriften im Internet.
* Das Ergebnis der Suche nach dem Stichwort Weisheit in PsycINFO im Februar 2011 im Internet.
KAPITEL 2
Achtsame Präsenz*
Eine Grundlage für Mitgefühl und Weisheit
TARA BRACH
Besuchst du regelmäßig dich selbst?
RŪMĪ (BARKS, 1995, S. 80)
Ich war gerade dabei, einen eintägigen Meditationsworkshop zu beenden, als mich eine Frau Ende 60 beiseitenahm. Sie und ihr Mann Jerry waren am Ende einer sehr schwierigen Zeit angekommen, die vor drei Jahren begonnen hatte. Er war an einem Lymphom erkrankt, und jetzt, da sein Tod näher kam, hatte er seine Frau Pam gebeten, seine Pflege zu übernehmen und die Person zu sein, die ihn bei seinem Übergang leiten und unterstützen sollte. „Tara“, hatte sie zu mir gesagt, „ich brauche wirklich Hilfe.“
Verzweifelt tat Pam für Jerry alles, was sie konnte. Er litt unter intensiven Schmerzen, Übelkeit und Erschöpfung. „Ich möchte ihn so gern retten“, sagte sie. „Ich habe mich bei jeder alternativen Behandlungsmethode, die ich finden konnte, umgesehen … bei der ayurvedischen Medizin, bei der Akupunktur, der traditionellen chinesischen Medizin, und alle Testergebnisse ausfindig gemacht … wir werden diese Sache besiegen.“ Sie ließ sich müde auf ihren Stuhl fallen. „Und jetzt bleibe ich mit allen in Kontakt, halte sie auf dem Laufenden … ich koordiniere die Hospizpflege. Wenn er nicht schläft, versuche ich, es ihm bequem zu machen, ich lese ihm vor …“
Ich antwortete behutsam: „Es klingt so, als hättest du dich wirklich sehr bemüht, dich richtig gut um Jerry zu kümmern … und du hast sehr viel getan.“ Bei diesen Worten lächelte sie mich anerkennend an. „Ja, sehr viel getan. Das klingt verrückt, nicht?“ Sie machte eine Pause. „Soweit ich mich erinnern kann, habe ich mich wirklich sehr, sehr angestrengt. Aber jetzt … also, ich kann ihn nicht einfach ohne zu kämpfen gehen lassen.“ Pam schwieg eine Weile und sah mich dann ängstlich an: „Er kann jetzt jeden Tag sterben, Tara. Gibt es nicht irgendeine buddhistische Übung oder ein Ritual, das ich lernen sollte? Gibt es etwas, was ich lesen sollte? Wie ist es mit dem Tibetanischen Totenbuch? … Wie kann ich ihm bei diesem … beim Sterben helfen?“
Als ich die Dringlichkeit hinter ihren Fragen spürte, forderte ich sie auf, in sich hineinzuhören und mich wissen zu lassen, was sie fühlte. „Ich liebe ihn so sehr, und ich habe eine solche Angst davor, dass ich ihn im Stich lassen könnte.“ Sie begann zu weinen. Nach einer Weile sprach sie wieder. „Mein ganzes Leben habe ich Angst davor gehabt, zu versagen – ich glaube, ich war immer getrieben. Jetzt habe ich Angst, bei der Sache zu versagen, die am meisten zählt. Er wird sterben, und ich fühle mich wirklich allein, weil ich ihn im Stich gelassen habe. Ich traue mir einfach nicht zu, dass ich hiermit umgehen kann.“
„Pam“, sagte ich, „du hast schon so viel gemacht … Aber die Zeit für all diese Aktivitäten ist vorbei. An dem Punkt, an dem du jetzt bist, brauchst du nichts mehr zu schaffen, du brauchst nichts zu tun.“ Ich wartete einen Moment und fügte dann hinzu: „Du brauchst einfach nur bei ihm zu sein. Lass ihn deine Liebe durch die Fülle deiner Präsenz wissen.“
In diesem schwierigen Moment fiel mir eine einfache Lehre ein, die für meine Arbeit mit meinen Meditationsschülern wie auch mit meinen Klienten zentral ist: Dass wir Freiheit von Leiden entdecken, geschieht dadurch, dass wir unsere Fähigkeit erkennen, auf eine weise und liebevolle Weise präsent zu sein, und dieser Fähigkeit dadurch vertrauen, dass wir diese Präsenz sind. Angesichts der größten Herausforderungen des Lebens bringt diese zeitlose Präsenz Heilung und Frieden in unser Herz und in die Herzen anderer. Die tiefsten Transformationen in der Therapie entstehen aus der Fähigkeit eines Menschen, sein Leben in einem liebevollen, weisen Bewusstsein zu halten. Dieses Bewusstsein wird dadurch erreicht, dass wir mit bedingungsloser Präsenz aufmerksam sind: klar und mitfühlend sehen, was in diesem Moment ist. Wenn Therapeuten ihren Klienten so eine Fülle der Präsenz anbieten, sind sie ein Modell dafür, wie dieser Mensch sich in sich selbst einschwingen kann; sie bieten somit unmittelbar den heilenden Balsam ungeteilter Aufmerksamkeit. So eine Präsenz, die wir uns selbst oder anderen anbieten, ist nicht passiv. Sie ist vielmehr ein engagierter, rezeptiver Zustand, der der eigentliche Boden für weises Handeln ist.
Pam hatte genickt, als ich von „der Fülle der Präsenz“ sprach. Sie und Jerry waren katholisch, erzählte sie mir, und sie fanden, dass ihnen die Achtsamkeitspraxis, die sie bei mir in der wöchentlichen Gruppe gelernt hatten, geholfen hatte, ihren Glauben tiefer zu empfinden. Aber in dieser Krise schienen alle Reserven an Vertrauen – in sich selbst, in andere, in Gott – außer Reichweite zu sein: „Ich weiß, die Helfer des Hospizes tun alles, was sie können, um zu helfen, aber ich habe einfach das Gefühl, dass dies nicht passieren sollte … Niemand sollte so etwas durchmachen müssen – es ist einfach nicht richtig.“ Für Pam wie für so viele Menschen war Krankheit mit manchmal gnadenloser Last und gnadenlosem Schmerz ein unfairer und grausamer Feind. Manchmal fühlte sie sich verraten und empfand Wut auf das Leben, und in anderen Momenten versank sie in dem Gefühl, persönlich zu versagen. Pam war in Angst und Einsamkeit gefangen und lebte in etwas, was ich eine „Trance“ nenne, identifiziert mit einem mangelhaften, isolierten und bedrohten Selbst.
„In diesen äußerst schwierigen Momenten“, sagte ich, „könntest du anhalten und bewusst wahrnehmen, was du fühlst – die Angst oder Wut oder den Kummer – und dann innerlich leise den Satz sprechen: СКАЧАТЬ