Название: Wenn die Götter auferstehen und die Propheten rebellieren
Автор: Oliver Glanz
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783815026182
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2. Wenn gute Bekannte sich in Holland bei der Begrüßung dreimal auf die Wangen küssen, dann beurteilen wir deren Begrüßungsritual nicht als zu intim. Wir gehen davon aus, dass es ihre Art der Begrüßung ist und diese in keiner Weise besser oder schlechter ist als z. B. die deutsche Umarmung. Wenn die jüdischen Kinder in der Wohnsiedlung fröhlich vom Purimfest erzählen, sagt mir die katholisch erzogene Nachbarin: »Ja, jeder hat eben so seine eigene Art, Spiritualität zu erleben«. Über Homosexualität wird schon lange nicht mehr aggressiv debattiert. Mein Arbeitskollege findet es zwar nach wie vor schwer nachvollziehbar, aber er sagt letztendlich: »Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten, seine Sexualität auszuleben.« Den Papst und seine Auffassungen findet er menschenverachtend: »Der ist noch im Mittelalter stecken geblieben«, meint er.
Wir sind uns alle einig über die Unterschiedlichkeit. Während die einen Elvis vergöttern, trauern die anderen um Kurt Cobain – Musikgeschmack ist eben subjektiv. Wenn jemand noch an das Ideal oder die Wahrheit glaubt, dann nennen wir ihn Fundamentalist. Fundamentalisten glauben, dass ihr Erleben der Wirklichkeit das einzig Wahre ist, und alle anderen sich in ihrer Wahrnehmung täuschen. Auch wenn es immer mehr Fundamentalisten gibt, so sind sie doch die Minderheit in unserer Gesellschaft. Wir aber – als moderne Menschen – erkennen im Gegensatz zu den altmodischen Fundamentalisten, dass es viele unterschiedliche in sich stimmige Möglichkeiten gibt, die Welt zu erfahren. Dass wir dabei oft schon längst subjektivistisch geworden sind, ist uns oft nicht bewusst. Aber wenn wir unseren eigenen Komfort bedroht sehen, lassen wir das Dogma Subjektivismus schnell fallen und berufen uns auf medizinische Gutachten (Objektivismus), um die 37-Stunden Woche zu bewahren. Da reden wir dann nicht vom 20-Zoll-LCD-Bildschirm, den wir uns geleistet haben, der aber eigentlich nicht nötig ist.
Niemand würde verneinen, dass es allgemeingültige Gesetze gibt, die zu einem großen Teil unser Leben bestimmen, aber keiner will sagen, dass wir fremdbestimmte Maschinen sind, und Freiheit eine Illusion ist. Niemand würde verneinen, dass es individuelle Freiheit gibt, aber keiner will behaupten, dass der andere tun und lassen kann, was er will. Und bevor wir zur Maschine oder zum Tyrannen werden, entscheiden wir uns für ein unklares Leben zwischen zwei Dogmen, denen wir glauben, aber dann doch nicht vertrauen wollen. Wir sind Opfer einer Erpressung zweier Dogmen: Wir leben in der Zwickmühle. Darin liegt die Ursache für die Sinnleere, die der moderne Mensch erlebt.
1.4 Problembehandlung
Manche sind sich ihrer Opferrolle sehr, manche sind sich ihrer weniger bewusst. Aber für alle gilt, dass das Leben zwischen den Dogmen sich auf die eigene Existenz sinnentleerend auswirkt. Ein Leben mit wirklicher Überzeugung und Orientierung kann der moderne Mensch nicht leben. Was bleibt, ist Lethargie als Grundstimmung. Es mag seltsam erscheinen, aber unsere Opferrolle ist zum großen Teil selbstgemacht. Zwar haben nicht wir das Problem erzeugt, aber die Grundlagen für die Entstehung dieser modernen Sackgasse sind durch unsere Vorfahren vor ungefähr 400 Jahren gelegt worden. Und weil wir als moderne, fortschrittsliebende Menschen lieber vorausschauen, als in die primitive Vergangenheit blicken, wissen wir oft nicht mehr, warum wir heute so denken wie wir denken.
Und so müssen wir uns die historische Frage stellen, wie die Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus entstanden ist. Nur so werden wir unser Dilemma verstehen. Und nur dann kann in den weiteren Reflexionen sichtbar werden, wie die biblischen Schriften mit ihren Propheten eine überzeugende Gegenposition zum philosophischen Dilemma unserer modernen Zeit entwerfen.
In der folgenden Reflexion wird versucht, den Ursprung der Zwickmühle zu verstehen und die Gedanken der Vorfahren zu begreifen. Danach wird das menschliche Denken kritisch hinterfragt (Reflexion 3). In den Reflexionen 4 bis 6 wird der biblische Gegenentwurf der Propheten aufgezeigt.
1.5 Klärung
Wir haben gesehen, dass Subjektivismus und Objektivismus als Dogmen bei allen modernen Menschen als Basis für Denken, Handeln und Entscheiden funktionieren. In den meisten Fällen operieren diese Dogmen im Unterbewusstsein. Dabei lassen sie eine sinnentleerte Atmosphäre im Leben des modernen Menschen entstehen. Es ist darum wichtig, sich bewusst zu werden, wo und wie diese Dogmen im eigenen Denken und Fühlen anwesend sind.
Die folgenden Aufgaben sollen helfen, Spuren des Subjektivismus und Objektivismus im eigenen Leben und Lebenskontext aufzuspüren.
→ Untersuche, wo sich in deinem täglichen sozialen Kontext (Schule, Universität, Arbeitsplatz) Hinweise auf Subjektivismus und Objektivismus finden lassen. Du entdeckst diese Hinweise meist in Gesprächen, in denen unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen.
→Wie wird in deinem Freundeskreis das Verhältnis zwischen Evolutionismus (Objektivismus) und persönlicher Freiheit und Vorstellungskraft (Subjektivismus) verstanden? Ist die Freiheit und Vorstellungskraft das Ergebnis der Evolution oder ist die Evolutionstheorie das Ergebnis menschlicher Vorstellungskraft? Oder gibt es sogar eine dritte Möglichkeit?
→Lies zur Vertiefung Alvin Plantingas »On Christian Scholarship«. (http://www.calvin.edu/academic/philosophy/virtual_library/articles/plantinga_alvin/on_christian_scholarship.pdf)
→ Schaue dir einen der folgenden Filme an und erörtere, wie sich in diesem Film das Verhältnis zwischen Subjektivismus und Objektivismus darstellt: A beautiful mind, Matrix, Inception.
2 VON DER UNABHÄNGIGKEIT IN DIE GEFANGENSCHAFT
Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein.
(Weber, M. »Wissenschaft als Beruf (1919)«. In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, edited by Winckelmann, J., 582 – 613. 6th ed. Tübingen: Mohr Siebeck, 1985, 502)
Literatur: Kaufmann, W. A. Critique of Religion and Philosophy. Princeton: Princeton University Press, 1978; Nagel, T. »What Is It Like to Be a Bat?« The Philosophical Review 83, no. 4 (1974): 435 – 450; Randall, J. H. The Making of the Modern Mind: a Survey of the Intellectual Background of the Present Age. Boston, New York: Houghton Mifflin, 1926; Taylor, C. Sources of the Self: The Making of the Modern Identity. Cambridge: Harvard University Press, 2006.
2.1 Einleitung: Gegenwart nicht ohne Vergangenheit
In der letzten Reflexion wurde gezeigt, wie sich die modernen Dogmen von Subjektivismus und Objektivismus sinnentleerend auf den Menschen auswirken. Dennoch werden sie in einer gewissen Weise von jedem geglaubt und dominieren den Alltag meist unbemerkt. Die vorgeschlagenen Aufgaben zur Selbstreflexion und zur Beobachtung haben den Einfluss dieser zwei Dogmen auf das eigene Leben vielleicht noch stärker bewusst gemacht. Ich hatte allerdings darauf verwiesen, dass die Grundlagen für diese Zwickmühle selbst erzeugt sind – zwar nicht von uns, aber von unseren Vorfahren. In dieser Reflexion wird versucht zu verstehen, wie eine vergangene Generation der Konstrukteur der modernen Zwickmühle zwischen Subjektivismus und Objektivismus wurde. Danach lassen sich die Schriften des biblischen Prophetentums als sinnvoller Gegenentwurf begreifen.
2.2 СКАЧАТЬ