Название: Menschen im Krieg – Gone to Soldiers
Автор: Marge Piercy
Издательство: Автор
Жанр: Книги о войне
isbn: 9783867548724
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Sie hatte einer Konferenz des Schriftstellerkriegsbeirates beigewohnt. Dieser war nicht Teil der offiziellen Regierungsbürokratie, auch wenn Redakteure und Verleger das oft annahmen, weil er eng mit dem Statistischen Bundesamt zusammenarbeitete, das wiederum laut Flüsterparole bald durch eine Behörde ersetzt werden sollte, die sich eher dafür eignete, Propaganda zu verbreiten.
Sie war angesprochen worden, beim Aufbau der Zeitschriftenabteilung mitzuhelfen. Sie hatte wenig mit dem Komitee für Boulevardblätter zu tun, doch sie arbeitete in der Gruppe mit, die Richtlinien für Frauenzeitschriften und Zeitschriften mit unbegrenztem Leserkreis erstellen half: ihren eigenen Märkten. Alle drei Monate gab der Beirat Kriegsrichtlinienergänzungen heraus mit Themenvorschlägen für die Kurzgeschichten und Beiträge in den Zeitschriften.
Sie erkannte Washington von ihrem ersten Besuch als Touristin mit Oscar und Kay kaum wieder. Auf gleichem Raum schienen fünfmal so viele Menschen zu leben. Was sie auch tat, ob sie am Taxistand wartete, an der Essensausgabe wartete, vor der Toilette wartete, überall standen lange Schlangen. Washington kam ihr vor wie eine Telefonzelle, in die sich zu viele Leute gezwängt hatten, um alle gleichzeitig in den Hörer zu schreien. Es blieb im Kern eine selbstzufriedene, rassengetrennte Südstaatenkleinstadt, deren bessere Restaurants und Hotels sich Schwarze verbaten und deren Schulen und sonstige Einrichtungen nach Schwarz und Weiß sortiert waren. Dennoch wimmelte es von faszinierenden Männern, jetzt vielleicht mehr denn je.
In New York war Pennsylvania Station überrannt von Menschen mit und ohne Uniform, die sich mit Inbrunst begrüßten oder verabschiedeten. Louise hatte ihr Kostüm arg verschwitzt und fühlte sich welk und matt. Sie schaute sich nach ihrer Tochter um. Sie hatte Kay gebeten, sie abzuholen, da sie nicht nur ihren Koffer, sondern auch eine Aktentasche und dazu noch einen Pappkarton voller Materialien mitschleppte. Sie konnte keinen Gepäckträger finden und zerrte ihre Last den Bahnsteig entlang zur Sperre, dann hielt sie nach Kay Ausschau. Verspätet, nahm sie an. Sie setzte sich wieder auf ihren Koffer, fühlte sich entschieden schmutzig, müde und unattraktiv. Wo zum Teufel blieb ihre verdammte Tochter? Sie wollte sich bei einem öffentlichen Fernsprecher anstellen, aber die Warteschlangen waren einfach viel zu lang.
Schließlich, nachdem eine halbe Stunde verstrichen war, requirierte sie einen der wenigen verbliebenen Gepäckträger und setzte sich in ein Taxi. New York war für halb fünf überraschend unverstopft. Noch vor sechs Monaten um diese Stunde in der Pennsylvania Station anzukommen und ein Taxi zu nehmen hätte bedeutet, im Schritttempo voranzuschmauchen. Schon waren deutlich weniger Autos auf den Straßen von Manhattan, und der Verkehr floss rasch. Was war nur mit Kay passiert?
Sinnliche Erleichterung durchflutete sie, als sie die Diele ihrer Wohnung betrat. Daheim. In Washington hatte sie sich im Mayflower ein winziges Zimmer, das offensichtlich bis zu diesem Jahr ein kleineres Einzelzimmer gewesen war, mit Dorothy McMichaels teilen müssen, die unter einer ganzen Phalanx von Pseudonymen pro Monat zwei bis vier Geschichten für die Boulevardblätter ausspie. Dorothy war konservativ, fromm und glaubte fest an sexuelle Sünde und Sühne. Mit ihren derben Knochen und ihrer lauten Stimme erinnerte sie Louise an die Sozialarbeiterinnen, die sie als Waisenkind in Cleveland zu diversen Pflegeeltern gesteckt hatten.
Louise dachte nicht gern an ihre Kindheit zurück, die hart, freudlos und wie ein Zeitsprung zurück in einen Roman von Dickens gewesen war. Wegen ihrer christlichen Frömmigkeit erinnerte Dorothy sie an ein ganz bestimmtes Pflegeelternpaar, das sie besser ernährte und kleidete, als sie gewohnt war, dafür aber weit mehr in Angst und Schrecken versetzte, denn der Vater versuchte ihr ins Höschen zu greifen, wann immer er sie allein erwischte. Ein Diakon der Methodistenkirche. Die Sozialarbeiterinnen hatten sich oft nicht darum gekümmert, dass Louise jüdisch war, denn – wie sie in ihrer Gegenwart laut zueinander sagten – man sah es ihr nicht an. Louise wusste es besser. Sie sah wie eine ungarische Jüdin aus, wie Fotos von ihrer Mutter, bevor Krankheit und stupide Schwerstarbeit ihre Schönheit weggefressen hatten. Darum gemahnte Dorothy sie stärker an ihr verängstigtes und machtloses früheres Selbst, als ihr lieb war. Louise ließ ihre Herkunft lieber in ihren politischen Überzeugungen als in ihren Gefühlen weiterleben. Außerdem liebte sie ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit und Bequemlichkeit. Das Reisen hatte auf Kriegsdauer, wie man jetzt sagte, aufgehört, ein Genuss zu sein.
Sie sah rasch ihre Post durch, die sich in einer Ansammlung wackeliger, von Blanche sortierter Türme aufgehäuft hatte, bevor sie durch die Wohnung eilte und »Kay! Kay!« rief.
Ihre Tochter war nicht in ihrem Zimmer. Mrs. Shaunessy erklärte, Kay habe ihr gesagt, sie könne ihre Mutter nicht abholen. »Es wäre nett gewesen, wenn sie sich die Mühe gemacht hätte, mir das zu sagen! Ich habe eine halbe Stunde gewartet«, beklagte sich Louise.
Mrs. Shaunessy schüttelte müde den Kopf. Obwohl beide etwa im gleichen Alter waren – die Haushälterin, die zwei verheiratete Töchter hatte, war einundvierzig –, wirkte Mrs. Shaunessy mit ihrem straff zu einem Knoten zurückgekämmten graumelierten Haar auf Louise großmütterlich. »Wo wir schon dabei sind, ich hatte Streit mit Kay über ihr Kommen und Gehen. Ich muss schon sagen, sie ist mir reichlich pampig über den Mund gefahren. Das Kind hat sich geweigert, mir zu sagen, wo sie heute Nachmittag nach Schulschluss hingeht.«
»Was steckt bloß dahinter? Ich werde mit ihr über ihr ungehöriges Benehmen sprechen.«
»Es steht mir nicht zu, das zu sagen, aber wenn Sie mich fragen, die ist hinter den Jungens her. So fängt das alles an in dem Alter. Sie wissen ja.«
»Kay?« Sie dachte an ihr linkisches, schlaksiges Füllen. »Irgendwie habe ich meine Zweifel, aber ich werde sie mir sofort vorknöpfen.«
Bestrafte Kay sie, weil sie weggefahren war? Sie hätte ja erwogen, Kay mitzunehmen, aber dafür hätte Kay der Schule fernbleiben müssen, einer Elizabeth-Irwin-Schule, und im Washington der Kriegszeit waren Unterkünfte so knapp, dass sie nicht einfach ein Doppelzimmer verlangen und ihre Tochter hineinsetzen konnte. Sie hätte ja selbst alles für ein Einzelzimmer gegeben.
Sie ärgerte sich über ihre Ansprüche. Ein Zimmer mit einer lauten Schmachtfetzenschreiberin zu teilen war schließlich kaum mit den Gefahren vergleichbar, denen die europäische Zivilbevölkerung und die amerikanischen Militärangehörigen ausgesetzt waren. Manchmal war ihr unbehaglich, wie sehr sie sich an Komfort und Annehmlichkeiten gewöhnt hatte, an saubere frische Kleider, die modisch und gut gearbeitet waren, ein heißes Bad, wann immer sie Lust hatte, eine Haushälterin, die Kay und sie versorgte, eine Sekretärin, um ihre Korrespondenz zu erledigen und ihre Manuskripte zu tippen, saubere, helle, geräumige Zimmer, geschmackvoll eingerichtet und mit ein paar schönen Bildern geschmückt, Originalen, von Oscar oder ihr ausgesucht. Sie hatte sich an alle Annehmlichkeiten des gehobenen Bürgertums gewöhnt und Kay dazu erzogen, sie zu erwarten, einen sauberen, schönen, lichtdurchfluteten Ort zum Wohnen und Arbeiten, gutes und reichliches und abwechslungsreiches Essen, einen ständigen Strom von Anregungen in Form von Konzerten, Büchern – die neuesten, die ältesten, die besten – und immer intelligenten und engagierten Gesprächen.
Sie zog ihr Hauskleid und ihre Pantoffeln an und warf sich in den Sessel vor ihrem Walnussschreibtisch. Sie war für den Ausschuss ungeheuer nützlich, denn der Gedanke, das, was sie schrieb, als Propaganda zu sehen, war für sie weder neu noch schockierend. Sie zog die neue Linie der alten vor: Ihr lag viel näher, in arbeitenden Frauen liebevolle, verantwortungsbewusste, ja sogar aufregende Staatsbürgerinnen zu sehen, als die Linie, die propagiert worden war, seit sie zu veröffentlichen begann, dass nämlich die arbeitende Frau eigenmächtig sei, selbstsüchtig, eine Gefahr für ihre Familie und die Gesellschaft.
In ihrer Familie hatten die Frauen immer gearbeitet. In Ungarn hatte ihre Großmutter einen Geflügelhandel betrieben, hieß es. Ihre Mutter hatte in einer Konservenfabrik gearbeitet, bis TB sie von Louise fortriss in ein Sanatorium und schließlich in einen frühen СКАЧАТЬ