Название: Rotlicht
Автор: Uwe Schimunek
Издательство: Автор
Жанр: Исторические детективы
isbn: 9783955520403
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Gertrud schob die gefüllten Teller zu Otto und Peter. «Jetzt wird gegessen und nicht gestritten. Guten Appetit!»
ZWEI
Sonnabend, 23. März 1968
VON DEN 250 KILOMETERN bis ins Wendland hatten sie gerade einmal ein Viertel geschafft, und Peter Kappe hatte schon jetzt Schmerzen im Rücken. Beinahe im Sekundentakt fuhr der Käfer über eine der Nähte zwischen den Autobahnplatten. Wenn die Stöße schon in seinem Kreuz Schmerzen verursachten, wie sollte es dann erst seinem Großonkel Hermann ergehen? Der alte Herr hatte Peter gebeten, ihn in einem geliehenen Auto in die niedersächsische Provinz zu chauffieren, wo er sich nach einem Häuschen umschauen wollte. Er und seine Frau hatten beschlossen, ihren Lebensabend am Gümser See zu verbringen.
Peter sah zum Beifahrersitz, sein Großonkel schien bestens gelaunt zu sein. Er schaute aus dem Fenster auf die weiten Felder im Brandenburgischen.
An diesem Sonnabendmorgen war kaum jemand unterwegs. Sie hatten die Stadt schon bei Sonnenaufgang verlassen. Die Kontrollen an den Zonengrenzen, die Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen, der Zustand der alten Straßen – ihre Reise würde den gesamten Tag beanspruchen.
«Was macht das Studium?», fragte Hermann.
«Ich bin wohl nächstes Jahr fertig.» Peter überlegte, was der Großonkel darüber hinaus hören wollte. «Ich denke darüber nach, ob ich mich danach um eine Doktorandenstelle bemühe.»
«Hm», brummte Hermann so leise, dass es beinahe im Motorengeräusch unterging. Für einen Moment schwieg er, dann fügte er hinzu: «Die Uni scheint mir derzeit ein heikler Ort für junge Menschen zu sein.»
Peter entgegnete nichts. Er merkte, dass seinem Großonkel etwas auf der Seele brannte. Also wartete er.
«Dein Vater hat mir erzählt, dass du in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund eintreten willst», sagte Hermann so langsam, als wollten die Worte nicht über seine Lippen kommen. «Er ist gar nicht glücklich darüber. Außerdem macht er sich Sorgen, weil du mit den Leuten aus der Kommune I verkehrst.»
«Was ist denn so schlimm daran?», fragte Peter, ohne den Blick von der Autobahn zu wenden.
«Was daran so schlimm ist?», echote der Alte. «Glaubst du, die lassen solche Leute in den Staatsdienst? Was denkst du, wer an den wichtigen Stellen in der Universität sitzt?» Hermann schnaufte und hob den Zeigefinger. Nun sprach er lauter. «Abgesehen davon, könnte auch dein Vater Ärger bekommen. Er ist Beamter.»
«Ich denke, die Sippenhaft ist abgeschafft?», entgegnete Peter ebenso laut.
Das folgende Schweigen ging im Motorengeräusch unter. Peter konzentrierte sich auf die Fahrbahn, zählte die Leitpfosten neben der Spur. Eins, zwei, drei …
«Schau lieber mal beim Sozialdemokratischen Hochschulbund vorbei», riet ihm Hermann. «Dem SHB gehören alle an, die später einmal in der SPD was werden wollen. Und ohne Parteibuch kannst du in West-Berlin gleich einpacken.»
«Bei der SPD fällt mir nur Lenin ein», sagte Peter.
«Lenin?», fragte Hermann, und es klang wie: Was willst du denn mit dem alten Knilch?
«Der hat doch gesagt: Wenn die Sozialdemokraten Revolution machen und einen Bahnhof stürmen wollen, dann kaufen sie vorher eine Bahnsteigkarte.»
«Und was ist so schlimm daran, wenn Menschen sich korrekt verhalten?»
«Ach Hermann …» Peter seufzte und begann wieder Leitpfosten zu zählen. Diesmal kam er nur bis zwei. Im Rückspiegel sah er, wie ein Polizeiauto, irgend so ein Ost-Modell – war es ein Wartburg oder ein Moskwitsch? –, sich näherte und hinter den VW Käfer setzte. Peter merkte, wie er unwillkürlich im Sitz versank. Er gehörte nicht zu den Leuten, die den Osten verteufelten, vor dem Mauerbau hatte er sogar eine Freundschaft mit einem Ost-Berliner gepflegt. Doch mit den Volkspolizisten wollte er lieber nichts zu tun haben, unter den Linken in West-Berlin hatten die einen schlechten Ruf. Dabei hatte Peter sogar selbst einen Verwandten bei der Volkspolizei. Doch Onkel Hartmut jagte als Major der Kripo Mörder und keine unschuldigen Studenten aus West-Berlin. Was sollte er tun? Fuhr er zu schnell, würden die Ost-Polizisten ihn stoppen, fuhr er zu langsam, würden sie das vielleicht auch für auffällig halten. Er umklammerte das Lenkrad so fest wie einen Rettungsring und schaute auf den Tachometer. Der Zeiger ruhte auf der Hundert. Nun bloß nicht schneller oder langsamer werden! Peter merkte, wie sich seine Zehen auf dem Gaspedal verkrampften.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Großonkel sich zu dem Polizeiauto herumdrehte und dann wieder zu ihm blickte. «Da siehst du, was auf deinen Lenin folgt!»
«Sei still!», zischte Peter. Er war sich nicht sicher, ob seine Worte im dröhnenden Käfer zu hören waren. Doch das war ihm egal.
Der Polizeiwagen blinkte und überholte. Peter atmete durch und ließ das Lenkrad lockerer. Prompt holperte der Käfer bedrohlich nah an den Mittelstreifen. Schnell umfasste Peter das Lenkrad wieder fester. Die Vopos hatten anscheinend nichts davon mitbekommen, der Wagen verschwand am Horizont.
Peter blickte zum Beifahrersitz und höhnte: «Du musst mir gerade sagen, wie schrecklich die Polizisten im Osten sind! Dein Sohn Hartmut mischt da schließlich kräftig mit.»
«Da sagst du etwas», murmelte sein Großonkel. «Das ist auch ein Grund, warum ich nicht mehr in der Stadt leben möchte. Ich habe nur Polizisten in der Familie. So lässt mich meine eigene Vergangenheit nie los. Wann immer ich Zeitung lese, erfahre ich von Morden. Mein ganzes Leben verbringe ich nun schon mit Leichen und Mördern. Etwas Abstand wird mir guttun!»
Da braucht man aber doch nicht gleich in die westdeutsche Ödnis zu ziehen, dachte Peter. Er wunderte sich über den Sinneswandel seines Großonkels, der sich bis vor Kurzem noch gerne in die Fälle seines Vaters eingemischt hatte und sich nicht mit seinem Rentnerdasein hatte abfinden können. Peter mochte Hermann, und bald würde er quer durch den Osten fahren müssen, wenn er ihn und seine Frau besuchen wollte.
Hermann richtete sich im Beifahrersitz auf. «Zurück zu deinem Vater. Mit dem SHB könnte er sich sicher noch arrangieren. Aber er würde es nicht verkraften, wenn du beim SDS eintrittst.»
Otto Kappe und Hans-Gert Galgenberg stiegen aus ihrem Wagen und traten vor das Haus, in dem der Bruder des Opfers wohnte. Im Erdgeschoss befand sich ein Ladengeschäft, in dessen Schaufenster Bücher lagen. Kappe trat näher und entdeckte eine Bibel. Daneben fanden sich Prospekte über die Reinheit des Lebens und Erlösung durch Askese sowie ein Ratgeber mit dem Titel Mein Weg zur Enthaltsamkeit.
«Det sind ja echte Spaßkanonen hier!» Galgenberg tippte gegen das Schaufenster und grinste.
«Hans-Gert, nimm dich zusammen!», ermahnte Kappe seinen Kollegen. «Wir besuchen den Bruder eines Mordopfers.» Er wandte sich dem Klingelbrett zu. Auf einem kleinen Zettel neben der Schelle für Pasulke stand der Name Mönningsee. Lebte der Mann etwa in wilder Ehe – und das über solch einem frommen Laden?
Kappe klingelte, und der Türöffner summte. Im Hausflur roch es ein wenig modrig, vielleicht stand die Kellertür offen. Kappe schritt die Treppe in den ersten Stock hinauf. Dort fand er zwei Wohnungstüren, an der rechten stand in Frakturlettern Pasulke und darunter СКАЧАТЬ