Название: Ketzer
Автор: Gerd Ludemann
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783866744783
isbn:
Ein anderes Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Kirchentypen betrifft den Aposteltitel. Ist er nach Jerusalemer Verständnis als Erscheinungsapostolat an Jerusalem gebunden und chronologisch begrenzt, so kann die antiochenische Gemeinde ihn für ihre Abgesandten gebrauchen und kennt offenbar keinerlei zeitliche Einschränkungen (vgl. Apg 14,4.14; Did 11,4). Hier ist er ein pneumatisch-charismatischer Wanderapostolat.
Idealtypisch geurteilt, liegen in Jerusalem und Antiochien also zwei verschiedene Kirchentypen vor43, allerdings nur idealtypisch, denn in der historischen Wirklichkeit realisieren sich Idealtypen nur bis zu einem gewissen Grad, und Paulus, aus dessen Schrifttum die obige Charakteristik weitgehend gewonnen wurde, ist im Hinblick auf das Kirchenverständnis nicht frei von widersprüchlichen Zügen. Er trieb die Unabhängigkeit seines Kirchenverständnisses nicht auf die Spitze und konnte gelegentlich auch so verstanden werden, dass Jerusalem in der Tat der Mittelpunkt der Christenheit sei.44 Eine ähnliche Kombination von Vorstellungen findet sich in dem Verständnis seines Apostelamtes. Behauptet er einmal, es entspreche dem Jerusalemer Erscheinungsapostolat (1Kor 15,8), so ist Paulus doch faktisch Wanderapostel.45
Konflikte waren angesichts der auseinanderdriftenden christlichen Gruppen der Frühzeit vorprogrammiert. Für die in Jerusalem verbleibende aramäisch-sprachige Gemeinde war die Thora nach wie vor gültig. Wer sich – ob Jude oder Heide – im Namen Jesu taufen ließ, hatte noch längst nicht den Freibrief, sich vom Gesetz zu dispensieren. Jesus war nämlich gekommen, das Gesetz zu erfüllen – nicht zu zerstören (Mt 5,17).
Ein Versuch, diese Krise zu meistern, ist das sog. Apostelkonzil, von dem Paulus in Gal 2 und Lukas in Apg 15 berichten. Wir halten uns an den Bericht des Paulus, der ja selbst maßgeblich am Krisenmanagement beteiligt war.46
Hier steht die Forderung zur Debatte, ob Heidenchristen beschnitten werden sollten, um Mitglieder der christlichen Gemeinde werden zu können (Gal 2,3). Sie richtet sich gegen die Praxis, Heiden ohne Beschneidung in die Gemeinde aufzunehmen, und wurde nicht erst zur Zeit des Konzils erhoben, sondern bereits vorher, und zwar in der Gemeinde Antiochiens, in die sich die von Paulus so titulierten »falschen Brüder« eingeschlichen hatten, um die Freiheit der dortigen Christen »auszukundschaften«.47
Darauf zieht Paulus mit Barnabas nach Jerusalem und nimmt in einem provokativen Akt auch den Heidenchristen Titus mit, um auf diese Weise grundsätzlich die Zustimmung der Jerusalemer Gemeinde zu seiner eigenen gesetzesfreien Praxis zu erlangen.
Aus dem paulinischen Bericht im Gal lassen sich zwei Verhandlungsgänge voneinander unterscheiden: Einer findet im Rahmen einer Gemeindeversammlung (Gal 2,2a), der andere mit den »Säulen« im kleinen Kreise statt (Gal 2,2b.6 ff). Das zeitliche Verhältnis der Unterredungen ist unklar.
Nach zähen Unterredungen und erregten Auseinandersetzungen, die spätestens in den Streitereien zum Zeitpunkt des Gal wieder aufgeflammt sind, kann Paulus den »Säulen« die Zustimmung abringen, dass die Heidenchristen nicht beschnitten werden müssen. Der Begleiter des Paulus, der Grieche Titus, wird jedenfalls nicht zur Beschneidung gezwungen (Gal 2,3; vgl. 2,14; 6,12).48 Gleichwohl war die Zustimmung hart umkämpft, ja, man wird sogar annehmen müssen: Die »falschen Brüder« hatten bei ihrer Forderung der Beschneidung des Titus wenigstens anfangs einen erheblichen Rückhalt in der Jerusalemer Gemeinde und weiterhin wohl auch die »Säulen« zumindest teilweise auf ihrer Seite.
Trotzdem – Paulus hatte die grundsätzliche Zustimmung der Jerusalemer Gemeinde zu seiner beschneidungsfreien49 Heidenmission erhalten. Der Grund für die mit einem feierlichen Handschlag besiegelte Einigung war offensichtlich ihr Erfolg, vor dem die Jerusalemer die Augen nicht verschließen konnten, und weiterhin die Bereitschaft der heidenchristlichen Gemeinden bzw. ihrer Vertreter, Paulus und Barnabas, die Einigung mit einer Geldgabe zu besiegeln.
Die Jerusalemer nahmen wohl eine zwiespältige Haltung gegenüber Paulus ein: Einerseits war sein Tun natürlich unzureichend, da die von ihm Bekehrten die Thora nicht hielten, und sogar gefährlich, da ihr Beispiel Juden andauernd zur Übertretung des Gesetzes anreizte. Andererseits war es besser als gar nichts, da Christus gepredigt und Zentren gegründet wurden, in denen die Arbeit durch Abgesandte aus Jerusalem fortgesetzt werden konnte. Die Richtigkeit solcher Betrachtungen vorausgesetzt, war die großzügige Geste des Paulus vielleicht der Punkt, der sie – zumindest für den Augenblick – für die seltsame Nachgeburt aus Tarsus einnahm, dies um so mehr, wenn sie aus der Spende gewisse Rechtsforderungen ableiten konnten. Zwar ist Paulus in seinem Bericht über die Konferenz in dieser Hinsicht zurückhaltend. Er versichert: »Mir haben die in Ansehen Stehenden nichts zusätzlich auferlegt«. (Gal 2,6). Dann aber folgt doch noch eine Zusatzklausel: »Nur sollten wir der Armen fürsorgend50 gedenken, was zu tun ich mich bemüht habe«. (Gal 2,10). »Deshalb ist die wichtigste Bestimmung des Konvents die unscheinbarste: die Sammlung für die jerusalemische Gemeinde; und die ferneren Bemühungen des Paulus für diese Kollekte gehören zum Wichtigsten seiner Tätigkeit.«51
Um das Verständnis der Kollekte ist in der Forschung lange gerätselt worden. Eine Richtung versteht sie in Analogie zur Tempelsteuer52, eine andere verweist darauf, dass mit ihr die Verheißung der Völkerwallfahrt in Erfüllung gehe.53 Schließlich wurde behauptet, die Kollekte sei in Jerusalem auferlegt und in den paulinischen Gemeinden gesammelt worden, damit diese »den traditionellen Status der Gruppe der ›Gottesfürchtigen‹ einnehmen können.«54 Da Primärquellen für die Sicht der Jerusalemer Gemeinde nicht vorhanden sind, bleiben das alles nur Vermutungen.
Eines scheint freilich sicher zu sein: Die Jerusalemer Verhandlungspartner und Paulus haben die Kollekte verschieden aufgefasst55, oder, vorsichtiger gesagt, die Vereinbarung erlaubte ihnen, die Kollekte unterschiedlich zu interpretieren. Dabei hat die Jerusalemer Gemeinde mit großer Wahrscheinlichkeit Rechtsforderungen aus der »Vereinbarung« abgeleitet56, Paulus aber den rechtlichen Charakter der ständigen Unterstützung z. T. verschleiert. Man vgl. Röm 15,25f: »Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen. Denn die in Makedonien und Achaia haben freiwillig eine gemeinsame Gabe zusammengelegt für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem.« Doch an anderen Stellen kommt zum Ausdruck, dass »Arme«57 ebenso wie »Auserwählte«. (Röm 8,33; Kol 3,12) und »Heilige« Ehrennamen der Jerusalemer Gemeinde waren.58. Es bleibt auffällig, wie viele verschiedene Ausdrücke Paulus für die Kollekte benutzt: logeia, charis, koinonia, eulogia. Dies zeigt die Dehnbarkeit der gemeinten Sache an.
Jedenfalls blieben zwischen Paulus und den Leitern der Jerusalemer Gemeinde, denen er eine Einigung abringen konnte, auch während der Konferenz erhebliche Spannungen bestehen. Gleichzeitig gehörten die »falschen Brüder« trotz des Konkordats mit dem Heidenapostel natürlich weiterhin der Gemeinde in Jerusalem an und werden die Vereinbarung nach Kräften bekämpft haben. Ihre offene Feindschaft gegen Paulus ist jedenfalls als maßgeblicher Faktor auf dem Konzil und in der Folgezeit vorauszusetzen, in der die Jerusalemer Kirche unter der Führung des Jakobus aktiv in die paulinischen Gemeinden eingriff.
Falls diese Überlegungen von der historischen Wahrheit nicht allzu weit entfernt sind, sollte man auch annehmen dürfen, dass die »falschen Brüder« trotz der Niederlage in der Beschneidungsfrage von indirektem Einfluss auf die Einzelheiten des Verhandlungsergebnisses gewesen sind. Diese Annahme wird bestätigt durch eine genaue Betrachtung der einen rechtlichen Charakter aufweisenden Einigungsformel Gal 2,9: »Wir zu den Heiden, sie … zu den Juden.«
Das Missionsfeld wird aufgeteilt. Die Heidenmission ist fortan Aufgabe des Paulus und des Barnabas, die Judenmission die der Jerusalemer Jakobus, Kephas, Johannes. Die Wendungen »zu den Heiden« bzw. »zu den Juden« lassen vom Wortlaut her nur ein exklusives Verständnis der in ihnen ins Auge gefassten Bezugsgruppen zu. Daraus ist dann zu entnehmen, dass jeweils nur Heiden bzw. ausschließlich Juden Zielgruppen der Mission СКАЧАТЬ