Название: Ketzer
Автор: Gerd Ludemann
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783866744783
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»Vier Jahre vor dem Krieg, als die Stadt noch im höchsten Maße Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum und begann unvermittelt zu rufen:
›Eine Stimme vom Aufgang,
eine Stimme vom Niedergang,
eine Stimme von den vier Winden,
eine Stimme über Jerusalem und den Tempel,
eine Stimme über Bräutigam und Braut,
eine Stimme über das ganze Volk!‹ (vgl. Jer 7,34; 16,9)
So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sondern stieß beharrlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe, und führten ihn zum Statthalter, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: ›Wehe dir, Jerusalem!‹
Als aber Albinus – denn das war der Statthalter – fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das Geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen und ließ nicht ab, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei, und ihn laufen ließ.
In der Zeit bis zum Kriege aber näherte er sich keinem der Bürger, noch sah man ihn mit jemandem sprechen, sondern Tag für Tag rief er, als ob er ein Gebet eingelernt hätte, seine Klage: ›Wehe, wehe dir, Jerusalem!‹
Er aber fluchte keinem von denen, die ihn schlugen, obwohl es täglich vorkam, noch segnete er die, die ihm Nahrung gaben, – eine einzige Antwort nur hatte er für alle, jenes unselige Rufen.
Am meisten aber schrie er an den Festtagen, und das tat er sieben Jahre und fünf Monate lang ohne Unterbrechung – seine Stimme stumpfte nicht ab, noch wurde er müde, bis er zur Zeit der Belagerung zur Ruhe kam, als er seinen Ruf zur Tat werden sah. Denn als er auf seinem Rundgang von der Mauer herab gellend rief: »und noch einmal wehe der Stadt und dem Volk und dem Tempel!‹, da setzte er zum Schluss hinzu: ›und wehe auch mir!‹, denn ein Stein schnellte aus der Wurfmaschine und traf ihn, so dass er auf der Stelle tot war und, noch jene Weherufe auf den Lippen, seinen Geist aufgab«. (Bell VI 300 – 309).19
Zurück zu Jesus von Nazareth: Seine männliche Jüngerschar, die von Galiläa mit ihm nach Jerusalem zum Passahfest gezogen war, hatte ihn vor bzw. bei der Festnahme fluchtartig verlassen, nach anfänglichem Zögern auch Simon Petrus, der unter den Jüngern Jesu eine Vorrangstellung innehatte. Freundinnen Jesu, die ebenfalls mit ihm von Galiläa nach Jerusalem zum Passahfest gereist waren, hielten dagegen länger bei ihrem Meister aus. Doch konnten auch sie sein Schicksal nicht wenden. Zu ihnen gehörte mit Sicherheit Maria aus dem galiläischen Fischerort Magdala, die von Jesus von einer schweren Krankheit geheilt worden war (Lk 8,2).
Endete der Karfreitag also wie ein großes Rätsel und war damit scheinbar alles zu Ende, so brach nicht lange nach dem Tod Jesu am Kreuz und der Flucht der Jünger nach Galiläa unverhofft ein neuer Frühling an. Wann genau sich das abgespielt hat, werden wir nie wissen. Aber nicht lange nach dem Todesfreitag sah Petrus in einer Vision Jesus lebendig, und dieses Geschehen führte zu einer Kettenreaktion.20 Hatte Petrus Jesus gesehen und gehört, so war damit der Inhalt der Visionen und Auditionen der anderen vorgegeben. Die Kunde verbreitete sich blitzartig, dass Gott Jesus nicht im Tod gelassen, ja, ihn zu sich erhöht hatte und dass dieser demnächst als Menschensohn auf den Wolken des Himmels wiederkommen werde.
Damit war eine neue Lage geschaffen, und die Jesusbewegung erlebte einen schwungvollen Neuanfang. Jetzt konnten Jesu Freunde noch einmal nach Jerusalem gehen und dort anknüpfen, wo ihr Meister das Werk unvollendet gelassen hatte, und das Volk sowie seine Oberen zur Umkehr rufen.
Vielleicht verstand man die Gegenwart als allerletzte Bußfrist, die Gott gegeben hatte. Der von Jesus selbst ins Leben gerufene Zwölferkreis (Mt 19,28)21 wurde von Petrus mitgerissen und sah ebenfalls Jesus (1Kor 15,5). Und wohl an dem Wochenfest (= Pfingsten), das auf das Todespassah folgte, ereignete sich jene Erscheinung auf einmal vor einer größeren Menge von Menschen, die man mit mehr als 500 angab (1Kor 15,6).
Auch Frauen waren jetzt unter denen, die Jesus sahen. Ja, auf gegnerische Einwände von jüdischer Seite und Fragen nach dem Verbleib des Leichnams Jesu hin wusste man alsbald zu berichten, dass Frauen das Grab leer gefunden hätten, und später, dass Jesus den Frauen am Grab sogar erschienen sei.22
Die Dynamik des Anfangs23 müssen wir uns hochexplosiv vorstellen, um so mehr, wenn eine ekstatische Disposition der von Jesus Zurückgelassenen mit zu berücksichtigen ist (C. Colpe). Am Anfang stand nicht, wie noch Ernst Haenchen in seinem einflussreichen Kommentar zur Apostelgeschichte gemeint hatte, ein pietistisch angehauchter Quietismus24, sondern eine umwerfende Erfahrung, die von Lukas25 eher noch domestiziert worden ist. Es blieb daher auch nicht aus, dass die leiblichen Brüder Jesu in den Strudel mit hineingerissen wurden, nach Jerusalem gingen und Jakobus sogar eine Einzelvision empfing (1Kor 15,7) – jener Jakobus, der zu Lebzeiten Jesu von seinem Bruder nicht viel gehalten hatte (Mk 3,20 f).
Für die genannten Vorgänge ist kaum mehr als ein Jahr anzusetzen. Vieles lief dabei nebeneinander her. Neben der Erfahrung des »Auferstandenen« in Visionen und Auditionen sind folgende Elemente der Entwicklung historisch fassbar:
1. Im Brotbrechen der versammelten Gemeinde wurde alsbald die Gemeinschaft mit dem hingerichteten, nun aber lebendigen Messias Jesus gegenwärtig.
2. Die Erinnerung an Jesu Wirken und sein Wort war unmittelbar gegenwärtig.
3. Die Naherwartung Jesu wurde ungebrochen übernommen, und an die Stelle des von Jesus vorausgesagten neuen Tempels trat die Gemeinde als Tempel, die von den Aposteln als Säulen getragen wurde.
4. Bestimmte Psalmen, wie z. B. Ps 110, wurden recht bald auf den erhöhten Messias-Menschensohn Jesus bezogen.
Ein neues Stadium erreichte die Bewegung, als sich ihr in Jerusalem griechischsprachige Juden anschlossen.26 Das mag bereits an jenem auf das Todespassah folgenden Wochenfest (= Pfingsten) gewesen sein, als sie aus aller Herren Länder in Jerusalem anwesend waren und von Jesus hörten. Auch auf sie wirkte das Tempelwort Jesu elektrisierend, nun aber so, dass daraus eine Gesetzeskritik floss (Apg 6,13). Aus Jerusalem hinausgedrängt, verbreiteten sie die Jesusbotschaft in den Gegenden außerhalb Jerusalems und lenkten die Aufmerksamkeit des Pharisäers Saulus auf sich. Dieser schritt zur Tat, unterdrückte die neue Predigt, bis er ebenfalls von Jesus überwunden wurde, ihn sah und hörte.
Mit diesem Ereignis scheint ein Schlusspunkt des ältesten Osterglaubens erreicht. Ja, für die Jerusalemer Urgemeinde lag die Erscheinung Jesu vor Paulus eigentlich bereits außerhalb der Zeit der Osterereignisse. Die Tradition in 1Kor 15,7 sagt ausdrücklich, Christus sei allen Aposteln erschienen. Wenn Paulus trotzdem eine Christuserscheinung empfangen zu haben behauptet, sich dann aber im Vergleich mit den Uraposteln als »Fehlgeburt«. (1Kor 15,8) bezeichnet, bekräftigt er diese Sicht der Urgemeinde.27
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