Название: Auf der anderen Seite der Schwelle
Автор: Raimund August
Издательство: Автор
Жанр: Короткие любовные романы
isbn: 9783957448019
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Sebastian saß, das Buch auf den Knien, die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben … Weit war er schon weg, nicht nur von Herders Überlegungen, sondern auch weit weg aus dieser düsteren Zelle. Das waren längst keine tagespolitischen Vorstellungen mehr denen er nachhing. Es ging ihm um die Klärung eines Standpunkts den er brauchte, um seine eigene Lage zu begreifen.
Die Welt, so sagte er sich, bewegte sich aus Gegensätzen … Das so genannte Gute musste nicht immer gut sein und das Böse nicht stets böse … Das eine gab es ohne das andere nicht. Es war ihm in seiner Lage aber nicht möglich sich das zusammen zu suchen und nachzulesen, was er benötigen würde, um seinen Standpunkt wie er ihm im ersten Moment erschien, zu begründen. Dafür würde die Bibliothek hier wohl nicht reichen und zum Schreiben hatte er auch nichts, wo schon jeder Bleistiftstummel Arrest bedeutete.
So musste er selbst fast wie ein Frühmensch, so sah er sich, mit dem Begreifen der Welt von vorn beginnen: Absolute Gegensätze, meinte er, seien gleichen Ursprungs und gleicher Wirkung. Er nahm das als Ausgangsbasis, als Standpunkt, als eine These die ihm einen weiteren Ausblick ermöglichen sollte.
Kapitel 17
Der Winter 1954/55 erwies sich nach dem nassen Sommer, als kalt und schneereich. Früh, wenn es noch dunkel war und der Hof nur vom Scheinwerferlicht erhellt wurde, eine Zeit vor dem Wecken in der ganzen Anstalt, wenn noch das Licht von draußen die Schatten der Gitter an die Zellenwand warf, konnte man das gedämpfte Schurren und Kratzen der Schneeschaufeln hören, wenn die Hofarbeiter die Wege und vor allem das Freistundenrondell vom Schnee befreiten. Wenn also dieses Kratzen der Schneeschaufeln Sebastian und die Gefangenen in den Zellen in einen neuen Tag holten, dann dachte Sebastian so manches Mal an die vielen endlosen Tage, die dem Hier und Jetzt, dem Heute noch folgen würden, bis das grelle Kreischen der Stahlschiene ihn wie auch alle anderen Insassen des Zellenbaus endgültig ins Jetzt und Heute riss.
Schon krachten wieder die Schlösser, Türen wurden aufgerissen: Randvolle Kübel raus, Wasserkanne rein. Türen krachten, Riegel schmetterten … Dann schnell der Reihe nach hintereinander Katzenwäsche in der Schüssel auf dem Hocker neben dem Kübel: Gesicht, Hände, Achselhöhlen befeuchten … Mit Wasser sparen! Was die Wasserkanne für alle hergab, das war nicht eben viel.
Und schon ging das Getöse wieder los, wenn Riegel, Schlösser, Türen zur Zählung aufgerissen wurden. Leere Kübel rein, Türen wieder zu. Türen erneut auf.
Frühstücksausgabe: Ersatzkaffeegetränk, einen vollen Esslöffel Marmelade in die Schüssel, Margarine auf einem Stückchen Margarine-Pergamentpapier sowie ein Messer, um die feuchte dunkle ‚Brotkuhle’, etwa 500 Gramm für den Tag, in Scheiben schneiden zu können. Das musste schnell gehen, denn ein Messer sollte nicht lange in den Händen von Gefangenen bleiben. Die Herausgabe eines Messers an Häftlinge, wenn auch nur für Minuten, wunderte Sebastian immer wieder. Offensichtlich war das Zerschneiden eines ganzen Brotes in Scheiben der Anstaltsbäckerei für ca. 800 bis 1000 Gefangene nicht möglich.
Eine andere Erklärung fand er nicht. Die Zellengenossen zuckten dazu nur die Schultern. Und schon kam das Krachen und Schmettern von Schlössern und Riegeln wieder näher und erreichte die eigene Zelle: Messer raus, Abwassereimer und Wasserkanne raus, Türe wieder zu.
Rasch frühstücken, den Kübel der Reihe nach benutzen, denn schon kam das Schmettern der Schlösser wieder näher …: Kübel vor die Türe, Wasserkanne und Abwassereimer rein und raustreten zur Freistunde. Dann das Poltern der schweren Holzschuhe auf dem Dielenboden der Galerie im Gleichschritt an den Zellentüren vorbei und hintereinander die Granitstufen hinab.
Beim Hinaustreten schlug die eiskalte Winterluft den Gefangenen entgegen wie ein Keulenschlag. Der Atem dampfte weiß in der Kälte.
„Im Gleichschritt links, links, links zwo drei vier …“, erscholl die Stimme des Vorturners eigenartig dünn in der kalten Luft, erschien es zumindest Sebastian, der im Gänsemarsch hinter den andern und im Gleichschritt diesen Rundlauf absolvierte.
„Alles Halt!“ Der Vorturner in der Mitte des tief verschneiten Rasenrondells schwenkt die Arme, schüttelt sie aus, die frierenden Häftlinge in der Runde folgen ihm. Der Vorturner beugte die Knie, einmal, zweimal, dreimal … und die Runde folgt ihm, bis auf ein paar ganz alte Männer, die sich dabei sichtlich quälten, immer wieder zum Vergnügen der Wachposten an den vier Ecken des ovalen Rundkurses. Zur eigenen Gaudi verlangten die dann anständige Kniebeugen von den Alten in der Erwartung, dass sie diese natürlich nicht zustande bringen würden. Der Spaß der Posten aus Langeweile und Frustation am Elend dieser Alten, Ende sechzig, Anfang Siebzig, die sich aus der Hocke, in die sie mit Absicht getrieben wurden, nicht mehr erheben konnten und kläglich sitzen blieben wurmte Sebastian zutiefst.
Na ja, überdachte er diesen trostlosen Mutwillen der Wachposten: In der Kälte rumstehen zu müssen bei diesen langweiligen Rundgängen, da schikanierte man entweder alle Gefangenen oder leistete sich eine Gaudi mit wenigen, dort eben mit diesen alten Männern. Die Posten werden sich bei den einzelnen Rundgängen sicherlich ablösen. Der Vorturner aber bleibt fast den ganzen Vormittag bei jedem Wetter … Ist ja auch bloß ein Gefangener und hat sich auf dieses „Ehrenamt“, eingelassen. Deshalb auch kein Mitleid mit ihm sagte Sebastian sich.
Endlich „Einrücken!“ Durchgefroren in den fadenscheinigen Sachen und wieder hinein in Zellen deren bloß überschlagene Heizungen kaum Wärme spendeten. Danach dösten alle wieder in ihre Decken gewickelt vor sich hin. Manchmal erzählte einer auch einen Schwank aus seinem Leben, von dem Sebastian annahm, dass es dabei eher ums Reden als um die Originalität des einst Erlebten ging. Ein anderer wieder machte sich laut Sorgen um seine Familie. Jüngere vor allem befürchteten immer wieder insgeheim oder auch offen das Ende ihrer jungen Ehen, sei es wegen des politischen Drucks auf die Frauen draußen, nämlich die Scheidung einzureichen. Etwas das vor allem auf politisch Verurteilte zutraf, oder ganz allgemein ihrer langen Strafen wegen. Das jahrelange Warten auf einen politisch verurteilten Ehemann setzte schon einiges an Zuneigung, Charakterfestigkeit und Überzeugung voraus, eingedenk mancher Stigmatisierung, die das tägliche Leben draußen beträchtlich erschweren konnte. Immerhin Anforderungen denen nicht alle Lebenspartnerinnen so ohne weiteres standhielten. Besonders tragisch, wenn manche in den Zellen noch von ihren jungen Frauen schwärmten, während diese draußen bereits die Scheidung betrieben, um das dem gefangenen Partner dann qua Amt mitteilen zu lassen.
Wenn also einer in der Zelle außer der Reihe Post bekam, Behördenpost, deren Empfang er quittieren musste, war inzwischen schon jedem klar worum es sich dabei fast immer nur handeln konnte. Sebastian sah dann wie die Unsicherheit dem meist jungen Empfänger ins Gesicht geschrieben stand, sah wie aus diesem Gesicht das Blut wich, wenn er den Inhalt des amtlichen Schreibens zur Kenntnis nahm, auf einen Hocker fiel und tonlos erklärte: „Meine Frau will sich scheiden lassen.“ Eine Mitteilung, die lediglich schweigende Verlegenheit in der Zelle hervorrief. Die meisten Betroffenen hatten mit einem solchen Schlag offensichtlich nicht gerechnet, zumal ihnen der direkte oder auch nur indirekte Druck nicht klar war, dem Angehörige, vor allem die meist jungen Ehefrauen von politisch Verurteilten, ausgesetzt sein konnten. Dagegen erwiesen sich Ehen älterer Gefangener im Schnitt als widerstandsfähiger und erprobter nach Krieg, Zusammenbruch und Kriegsgefangenschaft.
So jedenfalls erklärte Sebastian sich dieses Phänomen und fand es dann doch erstaunlich, dass seine Freundin in Leipzig mit ihren zehn Zeilen im monatlichen Brief noch immer zu ihm hielt. Man war allerdings auch nicht verheiratet.
„Du bist doch bestimmt noch СКАЧАТЬ