Название: Auf der anderen Seite der Schwelle
Автор: Raimund August
Издательство: Автор
Жанр: Короткие любовные романы
isbn: 9783957448019
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„Aber das schönste am Ganzen“, sagte Martin, „ist ja, dass der, der damals weggerannt war, der mir die Latte über die Rübe ziehen wollte, ausgesagt hat, ich hätte sie beide als Kommunistenschweine beschimpft, ehe ich den einen totschlug. Ich hatte aber gar nichts gesagt, mich nur verteidigt. Schließlich hatte nicht ich angegriffen, sondern wurde angegriffen.“
Sebastian wiegte wieder den Kopf. „Wir glauben dir das natürlich alle hier. Aber offiziell steht da Aussage gegen Aussage und dabei hattest du schlechte Karten gegen einen FDJ-Funktionär und SED-Beitritts-Kandidaten, der du nicht werden wolltest.“
„Das weiß ich jetzt auch“, sagte Martin. „Ich habe die Partei mitsamt dem Kommunismus diffamiert und einen FDJ-Funktionär erschlagen. So was nennt man einen Staatsfeind und Mörder haben die mir beim Verhör gesagt. Das Gericht machte dann in offensichtlich milderer Stimmung lediglich einen Staatsverleumder, Volksfeind und Totschläger aus mir.“
„Na klar“, sagte Sebastian grinsend, „du hast Vertreter des Arbeiter- und Bauernstaats beleidigt, als Kommunistenschweine beschimpft und einen davon sogar erschlagen. Da hast du noch Glück gehabt, dass die dir nicht wirklich einen Mord angehängt haben. Nicht die haben dir, sondern du hast den beiden aufgelauert. So hätte es auch vor Gericht heißen können … Und wie wolltest du dagegen ankommen? Und wer hat dich eigentlich verhört, die Kripo?“
„Nee, die Stasi. Bei der Kripo war ich nur ganz zu Anfang …“ „Sportler, also Boxer“, sagte Sebastian, „vielleicht geltet ihr schon ab ’ner Bezirksmeisterschaft als Vorbilder in der Öffentlichkeit und bei der Jugend. So seid ihr also auch Funktionäre. Du hattest das wahrscheinlich nicht richtig kapiert und gedacht die schenken dir Trainingsstunden während der Arbeitszeit.
Denk dabei doch nur mal an diesen Radfahrer … wie heißt der doch gleich?“ Dazu schlug Sebastian sich mit der flachen Hand gegen die Stirn „Täve, glaube ich“, sagte er, „, ja, Täve Schur. Der ist inzwischen Mitglied der Volkskammer. Solche Leute woll’ n die haben und nicht so einen wie dich. Ich könnte mir sogar vorstellen“, sagte Sebastian etwas nachdenklich, „dass die deine Angreifer dazu aufgefordert haben, den großen Boxer mal auf ’s Pflaster zu schicken und dann das!“ Er schüttelte den Kopf. „Also diese Panne, das nehmen sie dir übel. So hatten die nicht gewettet.“
„Aber nee … das kann ich mir so nicht vorstellen“, warf Siegfried, der eine ganze Weile nur zugehört hatte ein. „Ich meine, dass du in die FDJ eintreten musstest, wenn du um eine Bezirksmeisterschaft boxen wolltest … oder auch in die Partei bei ’ner DDR-Meisterschaft? Nee“, betonte er, „das glaube ich so nicht!“
„Du musst natürlich nichts glauben“, entgegnete der Ex-Boxer, „überhaupt nichts. Es wird dir nur ganz intern nahegelegt. Nicht von der Partei, sondern nur vom Trainer und später von den Sportfunktionären.“
„Also doch nicht gezwungen, das sagst du ja selbst.“
Martin schüttelte den Kopf. „Gezwungen“, sagte er, „wie stellst du dir das vor?
Im Sport, das ist wie in der Kunst, da gibt es keine festgelegten Normen, die einer erfüllen muss …“
„Doch“, widersprach Siegfried, „im Sport gibt’s Sekunden, Punkte, Tore, Siege …“
„Ja, die nur Sportler selber setzen können, nicht der Staat.“
„Übel nehmen sie dir’s schon“, mischte Sebastian sich ein, „nämlich wenn du’s könntest und nicht willst, also das Ansehen der DDR im Volk und möglichst in der Welt zu mehren.“
Martin, der Ex-Boxer lachte. „Na ja“, sagte er, „aber eine Bezirksmeisterschsaft ist keine DDR-Meisterschaft. Dort geht’s dann international zu und hat mit der Mehrung des DDR-Ansehens durchaus zu tun.“
„Es ist aber auch immer schon so“, sagte Sebastian, „dass Diktaturen den Sport hochjubeln. Das begann spätestens bei den Römern, dann bei Hitler, bei Stalin und jetzt bei Ulbricht. Es ist wohl besser“, fügte er nachdenklich hinzu, „man kommt in der Kunst oder im Sport gar nicht erst so weit, dass man auffällt und politisch erpreßbar wird. Das hättest du bedenken sollen“, wandte er sich an Martin, den Ex-Boxer.
Der nickte zustimmend. „Nachher weiß man immer alles besser.“
Das Gespräch zum Thema verebbte allmählich. Die Zelleninsassen versanken wieder in Schweigen, starrten vor sich hin oder saßen mit geschlossenen Augen auf ihren Hockern gegen einen Bettpfosten oder die Heizungsrippen gelehnt.
Schließlich erwies es sich als nicht möglich den ganzen Tag redend zu verbringen. Auch wurden nach Wochen die Themen knapp. Sebastian hatte anfangs noch erstaunt bemerkt, dass Menschen oft nur relativ wenig zu erzählen wussten, auch ältere, die seiner Meinung nach doch einiges erlebt haben mussten, an das sie sich aber nicht selten nur sehr bruchstückhaft erinnern konnten. So manches von dem man annehmen durfte, dass es ihr Leben geprägt haben musste, hatte, wie Sebastian es immer wieder erfuhr, in ihrem Bild von der Welt nur wenige Spuren hinterlassen, so als hätte das Erlebte sie nie wirklich erreicht.
Anfangs hatte er sich noch geweigert diese Feststellung als Tatsache zu verbuchen, in der Annahme, er sei vielleicht mit Überheblichkeit geschlagen. Doch bald war ihm klar geworden, dass er solche Einsichten dem Aufeinanderhocken in diesen beengten Zellen über viele Wochen zu verdanken hatte, weil es dort kein Ausweichen oder Abwenden gab und jeder durchsichtig werden musste.
Auf eine solch entblößende Konstellation stößt man im normalen Leben natürlich nicht so leicht.
Sebastian ging langsam zum Fenster, blickte hinaus in den verschneiten Hof und über die Mauer hinweg in die zugeschneiten Kleingärten mit den Lauben, in denen auch im Winter Leute hausten. Da und dort kräuselte sich aus Ofenrohren und Kaminen weißlicher Rauch in den tiefgrauen Himmel, dessen Licht den Tag, die Zelle und die Gemüter der Gefangenen kaum erhellte.
Und so zog dann auch bald Sebastian mit seinem Hocker und Herders „Über den Ursprung der Sprache“, ein Buch, das er vom Bücherkalfaktor hatte ergattern können, ins karge Licht, das durchs Klappfenster in die Zelle fiel. Dort erst konnte man, wenn überhaupt, in einem Buch lesen, da die Zelle sich an solchen Tagen als schwarzes Loch erwies.
Inzwischen gab es einen Bücherkalfaktor, der wegen Wirtschaftsvergehens, worunter alles mögliche verstanden werden konnte, zu 8 Jahren verurteilt worden war. Buchhändler im Zivilberuf, lang und dürr, Mitte, Ende Vierzig, von dem Sebastian erfahren hatte, dass die Gefangenenbibliothek über so gut wie alle deutschen und russischen Klassiker verfügte, auch einige französische und englische … Eine Gelegenheit, meinte Sebastian, sich ausführlich mit dieser Literatur zu beschäftigen und damit hatte er dann dort auf seinem Hocker unterm Klappfenster mit Herder begonnen, mit Herders Vorstellung von der „Entstehung der menschlichen Sprache“, die ja nicht einfach so da war.
Und Sebastian überlegte dabei von Herder angeregt, wie die unendlich vielfältige ungezähmte Natur die Vorstellungswelt des ganz frühen Menschen geprägt haben mochte. Wie diese Vorstellungswelt dann eine zunehmend vergleichende wurde und wie es schließlich zur Benennung von Gegenständlichem kam, unabhängig von dessem unmittelbaren Vorhandensein. Ein Faustkeil, ganz gleich wie groß oder klein, wie kantig oder glatt der war, blieb immer ein Faustkeil, sagte er sich, ganz gleich auch wo und wann, also immer vergleichbar mit der abstrahierten Vorstellung eines Faustkeils.
Der erste Schritt zur Benennung, zur Sprache. Für die unübersehbare Vielfalt der Natur fand man einfache Ordnungsrahmen. Irgendwann, СКАЧАТЬ