Название: Der Teufel von Köpenick
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955522100
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Mit sichtlicher Freude verpasste er Werner Rosinski die nächste Fünf. Dr. Gernot Glinka war der meistgehasste Lehrer des Gymnasiums. Schule hieß für ihn Selektion, und nur wenige hielt er für auserwählt, sich mit dem Lorbeerkranz des Abiturs schmücken zu dürfen. Noten waren für ihn die Machete, mit der er sich ohne jedes Mitleid ans Ausholzen machte. Starke Bäume entstanden nur dadurch, dass man ihnen ausreichend Licht und Nahrung verschaffte, indem man die schwächeren rechtzeitig fällte.
Eigentlich gefiel Heinz Franzke diese Einstellung, zumal er als Primus nicht Gefahr lief, ausgeholzt zu werden, aber seine Freunde Werner Rosinski und Lothar Lemke waren Wackelkandidaten. Ihre Versetzung war auch diesmal wieder arg gefährdet. Dr. Glinka hatte sie auf der Abschussliste, und niemand zweifelte daran, dass er sich bei der nächsten Zensurenkonferenz mit seiner Meinung auch durchsetzen würde. Zwar gab es Lehrer mit sozialem Mitgefühl, aber die kamen gegen Dr. Glinka nicht an.
Dr. Glinka war ein einsamer Mensch. Das machte ihn hart. Ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer konnte er frei agieren. Nur ganze zwei Monate hatte seine Verlobung gehalten, dann war ihm klargeworden, dass er nur als Einzelgänger glücklich werden konnte. Dass er so isoliert war, hing auch damit zusammen, dass er aufgrund eines Magenleidens, das noch kein Arzt richtig diagnostiziert hatte, unter einem üblen Mundgeruch litt.
»Mit dem an der Front hätten die Deutschen den Krieg nicht verloren«, spotteten die Schüler. »Der hätte die Alliierten nur anhauchen müssen, und ganze Bataillone wären zur Erde gesunken.«
Tatsache war, dass alle seine Gesprächspartner bemüht waren, einen Abstand von mindestens einem Meter zu ihm zu halten, andernfalls wagte man nicht mehr zu atmen.
»Fast wäre ich erstunken«, sagten die, die ihm zu nahe gekommen waren.
Niemand aber traute sich, ihm zu sagen, dass er – wie der Hausmeister Leibniz es ausgedrückte – »aus dem Mund stank wie eine Kuh aus dem Arschloch«.
Dr. Glinka selber aber nahm nicht wahr, wie es um ihn stand.
Das alles brachte Franzke auf eine Idee. Konnte er die in die Tat umsetzen, hätte er zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: seine beiden Freunde gerettet und Robert Cholet in den Schatten gestellt.
Als sie am Sonntagabend von Rangsdorf aus, wo die Franzkes ihre Laube hatten, mit der Bahn nach Hause fuhren, steckte ein kleines, sorgfältig verschlossenes Glas in seinem Rucksack – ein Glas voll mit Jauche. Die nun füllte er am Montagmorgen ungesehen in das Tintenfass, das nach alter Sitte im Lehrertisch eingelassen war.
Dr. Glinka kam gewohnt energisch ins Klassenzimmer und warf sein Lateinlehrbuch derart krachend auf den Lehrertisch, dass die Jauche aus dem Tintenfass schwappte und sofort ihren vollen Duft entfaltete.
»Hier stinkt es aber heute!«, rief Dr. Glinka.
»Hier stinkt es immer«, murmelten einige.
»Wo kommt das her?«, fragte Dr. Glinka.
»Vom Lehrertisch«, sagte Franzke.
Jeden anderen hätte Dr. Glinka nun zusammengestaucht, aber Franzke war sein bester Schüler. Der war nie aufmüpfig. Dem konnte er doch keine unlauteren Motive unterstellen. Als er sich nun auf dem Lehrertisch umsah, entdeckte er die Jauchespritzer und kam auch schnell dahinter, dass im Tintenfass noch etwas anderes schwappte als nur Tinte. »Wer war das?«
Schweigen.
Franzke blickte zu Boden, konnte aber an sich halten. Sich jetzt zu melden hielt er für unklug. Sein Plan sah anderes vor.
Als sich auch nach einigen Minuten keiner gemeldet hatte, holte Dr. Glinka den Rektor und erstattete sozusagen Anzeige gegen unbekannt.
Der Rektor war ein eingefleischter Reformpädagoge und hatte immer wieder überlegt, wie er Dr. Glinka wohl loswerden könne. Die Jauche war ihm nun ein willkommener Anlass, mit dem anderen Tacheles zu reden. »Es tut mir leid, Herr Kollege, aber einmal muss es ja sein, dass Ihnen jemand die Wahrheit sagt, in Ihrem ureigensten Interesse.«
»Was für eine Wahrheit?«, fragte Dr. Glinka.
»Dass Ihre Atemluft für Ihre Mitmenschen eine gewisse olfaktorische Belästigung darstellt.«
Dr. Glinka fuhr auf. »Wollen Sie damit sagen, dass ich Mundgeruch habe?«
»Ja!«
Das Gespräch, das die beiden anschließend noch führten, wurde immer erregter und endete damit, dass Dr. Glinka den Schuldienst quittierte und einen leitenden Posten in einem großen Wörterbuchverlag übernahm – mit einem Einzelzimmer.
Der Rektor fand am nächsten Vormittag in seiner Post einen anonymen Brief, in dem geschrieben stand, dass der Schüler Heinz Franzke dem Lehrer Dr. Glinka Jauche ins Tintenfass geschüttet hatte. Geschrieben hatte den Brief Franzke selber, und zwar auf der Schreibmaschine seines Onkels.
Als Franzke ein volles Geständnis abgelegt hatte, jubelte die ganze Klasse und wählte ihn, den Tyrannenmörder, anschließend zum Vertrauensschüler.
Die Strafe fiel gering aus, denn zum einen hasste der Rektor alles Denunziantentum, und zum anderen war er Franzke insgeheim zu großem Dank verpflichtet, hatte er sich doch durch dessen Missetat endlich von Dr. Glinka trennen können.
Von nun an allerdings bekam Heinz Franzke keine ganz so guten Noten mehr, denn die übrigen Lehrer legten Dr. Glinka gegenüber, sosehr sie ihn auch gehasst hatten, sozusagen posthum eine Solidarität an den Tag, mit der Franzke nicht gerechnet hatte.
Wenn er später einmal gefragt wurde, warum er nicht Staatsanwalt geworden sei, sondern »nur« Kriminalbeamter, dann hing das sicher mit der Aktion »Jauchefass« zusammen und konnte als Dr. Glinkas spätere Rache verstanden werden. Aber noch war es nicht so weit. Walter Franzke, der Vater von Heinz, war in Kalisch zur Welt gekommen, einer Kreisstadt in der preußischen Provinz Posen, hatte einige Zeit Agrarwissenschaft in Breslau studiert und war dann als Gutsverwalter nach Pilchowitz gegangen, einem Dorf in der Nähe von Kattowitz. Erst normaler Soldat an der Ostfront, hatte er sich bei Kriegsende der Marine-Brigade Erhardt angeschlossen und in dessen Freicorps im Baltikum gekämpft. Bis zum Leutnant war er aufgestiegen, dann hatte man ihm im Verlaufe des Kapp-Putsches sein linkes Knie zerschossen. Was tun mit einem steifen Bein? Die Reichswehr hatte ihn als »Krüppel« ausgemustert, und der Gutsherr hatte schnell verkauft, als sich abzuzeichnen begann, dass die Versailler Siegermächte weite Teile Oberschlesiens den Polen zuspielen würden. Nach einigem Hin und Her in Berlin hatten ihm seine alten Kameraden schließlich zu einem kleinen Lokal in der Steglitzer Albrechtstraße verholfen, dem »Heimatstübchen«. Hier nun konnte er nach Gutdünken herrschen. Und das Geschäft lief gut, kamen doch zu den normalen Gästen regelmäßig auch Mittelsmänner der Organisation Consul.
Heinz Franzke bewunderte seinen Vater. Schneidig war er, trotz seines Hinkefußes, und kommandieren konnte er wie kein Zweiter. Entweder man hatte diese Gabe, oder man hatte sie nicht. Walter Franzke hatte sie. Sich ihm zu fügen hieß immer, das Richtige zu tun und auf der Siegerstraße zu sein. Seine Feinde nannten Walter Franzke einen Herrenreiter, doch das empfand er als Ehrung. Er war alles andere als ein tumber Landsknecht und konnte die Zeichen der Zeit viel besser lesen als die meisten Intellektuellen in den Redaktionen und Hörsälen, und wenn er sagte »Kinder, wartet nur ab, unsere große Zeit wird noch kommen«, dann hatte das einiges Gewicht, und sein Sohn sah ihn durchaus als Propheten.
Heinz СКАЧАТЬ