Das Erwachen der Gletscherleiche. Roland Weis
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Название: Das Erwachen der Gletscherleiche

Автор: Roland Weis

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Lindemanns

isbn: 9783963080111

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СКАЧАТЬ Regenrinne weiter schob, die sich unter ihr gebildet hatte, schwemmte das Wasser auch einen kleinen weißen Papierfetzen weg. Rüthli wäre er fast entgangen. Er zog einen Handschuh aus und klaubte das winzige Papierchen aus dem kalten Eiswasser. Hürzeler, der seinen Kollegen kannte, zauberte aus den Tiefen seines Anoraks eine kleine Plastiktüte und hielt sie Rüthli hin. Der streifte das Papierchen in die Öffnung der Plastiktüte hinein und knotete sie dann sorgfältig zu. „S‘ könnt öbbis si“, so verfiel er vor Begeisterung in den heimischen Dialekt. Normalerweise achtete er auf seine kerzengerade, hochdeutsche Aussprache.

      Dann schritt Rüthli abermals die Fundstelle ab, inzwischen wegen der Dunkelheit hinter dem buttergelben Strahl einer dicken Polizeitaschenlampe. Es trieb ihn die Sorge um, etwas übersehen zu haben. Am nächsten Tag konnten alle Spuren verweht, verwässert oder verschneit sein. Selbst Wachtmeister Luchsinger, der immer noch in Hab-Acht-Stellung ausharrte, könnte über Nacht verschwinden, wenn sie ihn nicht mitnähmen. Ein Gletscher verschluckte gerne mal auch größere Gegenstände und ohne Probleme auch einen Polizeiwachtmeister. „Bewegen Sie sich!“, befahl Rüthli. „Sie frieren uns sonst hier noch fest.“

      Der Grund der Gletscherspalte war glatt wie eine eingeseifte Rutschbahn. Als sie sich auf den Rückweg machten, schlug es erst Korporal Hürzeler auf den Hintern, dann Wachtmeister Luchsinger. Rüthli und Thommy steuerten hinten und vorne an den Haltegriffen den Akia. So schlitterten sie talwärts. Rüthli sah schon die Schlagzeile vor sich: „Kettensäge aus Morteratsch-Gletscher geborgen!“ Zu peinlich! Noch konnte er sich keinen Reim auf den Fund machen. Aber er würde schon herausfinden, was hier geschehen war. Es gab zwar keine Leiche, aber es gab Beweisstücke, es gab Zeugen, es gab Fotos. Er drehte sich zu Hürzeler und raunte ihm zu: „Morgen früh müssen wir Vernehmungen machen und alle Beteiligten befragen, odder! Wenn wir im Polizeiposten sind, machen Sie eine To-Do-Liste!“

      Hürzeler stöhnte. Rüthlis Lieblingsbegriff war gefallen: To-Do-Liste! Das bedeutete nichts Gutes. Diese Listen genossen einen legendären Ruf bei der Kriminalpolizei. Und Rüthli wollte sie gleich machen, nicht erst am nächsten Morgen. Nach Hürzelers Zeitempfinden war es bereits Mitternacht. Er war todmüde, nass wie eine Bisamratte und hungrig wie ein Wolf. Wie konnte der Chef jetzt noch eine To-Do-Liste verlangen?

      *

      Rüthli suchte das deutsche Urlauberpaar Mona Hohner und Armin Röller in ihrem Hotel in St. Moritz auf. Er hatte sie noch am Vorabend zu später Stunde angerufen und sich vergewissert, dass ihr Urlaub noch andauerte und sie für ein Gespräch zur Verfügung standen. Das genervte Mosern von Armin Röller, der etwas von einer geplanten Mountainbike-Tour ins Telefon nuschelte, hatte der Feldweibel ignoriert. Die Frau wirkte am Telefon freundlich.

      Rüthli wartete in der kalten Hotelhalle, über deren Steinfliesen frühe Mountainbiker mit klackernden Spezialschuhen stürmten, bereit, die Berge zu erobern, obwohl es draußen fertige Pfützen regnete. Rüthli sah sich um. Ein typisches Sporthotel. Funktional, nüchtern, wenig Romantik. An den langweiligen weißen Wänden hingen übergroße Panoramafotos der Engadiner Bergwelt. Wie originell. Die Rezeption bestand aus einem integrierten, geschwungenen Furniermöbel, welches eine komplette Längsseite der Hotelhalle abschirmte wie eine Staumauer, sowie aus drei lieblosen Sitzgruppen aus schwarzen Lackledersesseln, garniert mit exotischen immergrünen Ziergewächsen. Rüthli war damit befasst, herauszufinden, ob es sich um echte oder um Plastikpflanzen handelte, als er das junge Paar dem Aufzug entsteigen sah. Der Mann war schlank, ein fein getrimmter Freizeitsportler mit auffallender Sonnenbräune. Die Frau war mittelgroß, ebenfalls schlank, mit weiblichen Formen an den richtigen Stellen, und ausnehmend hübsch. Ihr hellblondes Haar hatte sie unkompliziert am Hinterkopf zusammengeknotet. Sie lächelte und strahlte den Typ „Kumpel“ aus. Rüthli fand sie schon sympathisch, als sie mit beschwingtem Gang auf ihn zukam. Armin Röller fand er in gleichem Maße unsympathisch. Der Kerl stolzierte wie ein Gockel daher. Er trug einen Trainingsanzug, aus einem Material, das wahrscheinlich im Weltraum erfunden worden war. Das nach hinten gegelte Haar glänzte wie der Schopf eines Tangotänzers.

      Rüthli unterdrückte seine erwachende Abneigung. Stattdessen grinste er gutmütig wie ein Berner Sennerhund und lud die beiden zu sich in die Ledersesselecke ein. Er klappte seinen Laptop auf. „Ich schreibe mir immer die wichtigsten Aussagen auf, wenn ich mit Zeugen rede“, erklärte er ungefragt.

      „Zeugen von was ...?“ unterbrach ihn Armin Röller barsch. Im Gegensatz zu Mona Hohner war er stehen geblieben. Herausfordernd hielt er die Arme vor der Brust verschränkt. Rüthli schenkte ihm keinen Blick. Stattdessen wandte er sich an Mona: „Sie haben also diese Hand im Gletscher zuerst entdeckt?“

      Mona nickte. Wieso sollte sie patzig sein wie ihr Freund? Sie hatte schließlich nichts zu verbergen. Und dieser knuffige Polizist mit der Kurzhaarfrisur sah doch ganz friedlich aus. Er schaute sie mit treuherzigem Blick an und blinzelte vertrauenerweckend mit den farblosen Wimpern. „Ja“, sagte sie. „Die Hand schaute heraus aus dem Eis. Und sie war haarig.“

      „Und sonst?“

      Sie sah ihn fragend an. „Wie, sonst?“

      „Ist Ihnen sonst noch etwas an der Hand aufgefallen, außer dass sie haarig war?“

      Sie zögerte und schob die Unterlippe vor, um zu überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf: „Eigentlich nicht.“

      „Eigentlich?“

      „Was soll denn das?“, mischte Armin sich ein. Er fuchtelte mit den Armen. „Sie fragen ja gerade so, als würden wir etwas verbergen.“

      Rüthli griff das Stichwort ungerührt auf; er lächelte immer noch wie eine Kinderschwester: „Und? Haben Sie ...?“

      „Jetzt hört‘s aber auf!“

      „Es ist Ihnen also beiden nichts aufgefallen?“

      „Ich wüsste wirklich nicht, was einem da auffallen soll. Eine Hand ist eine Hand. Und das war’s!“

      Nachsichtig nickte Rüthli. „War es eine Frauenhand?“

      „Nein. Das haben wir doch schon den Polizisten von Pontresina gesagt“, übernahm Mona jetzt wieder das Antworten.

      „Woraus schließen Sie, dass es keine Frauenhand war?“ Rüthli hackte mit zwei Fingern auf die Tastatur seines Laptops ein.

      „Hab’ ich doch schon gesagt: Die Hand war ganz haarig. Und groß. Mit starken Fingern.“

      „Aha, dann ist Ihnen ja doch etwas aufgefallen. Nämlich dass die Hand starke Finger hatte.“

      „Ja, schon. Aber ist das etwas Besonderes?“

      „Sie, Herr Röller, – setzen Sie sich doch! Haben Sie die Hand auch gesehen?“

      „Natürlich! Das habe ich schon bei Ihren Kollegen zu Protokoll gegeben. Das war glasklar eine Männerhand. Ich habe sie genau angeschaut. Und fotografiert.“

      „War es eine linke oder eine rechte Hand?“

      „Äh ...?“

      Rüthli wartete ein paar Sekunden. „Eine linke oder eine rechte Hand?“

      Mona und Armin sahen sich gegenseitig an. Ratlos.

      „Ich glaube, links“, sagte Mona schließlich zögernd.

      „Rechts“, widersprach Armin. Sie warf ihm einen kurzen Giftblick zu. Urs Rüthli registrierte es aus seinem Polizeiaugenwinkel, obwohl es aussah, als sei er ganz und gar in den Laptopbildschirm СКАЧАТЬ