Название: Das Erwachen der Gletscherleiche
Автор: Roland Weis
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Lindemanns
isbn: 9783963080111
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„Schon Funk gehabt?“
Der Diensthabende verneinte. Rüthli hielt den Blick dackeltreu auf ihn gerichtet, sagte aber nichts, als wartete er auf weitere Auskünfte. Schließlich verstand der Andere. „Sölled mr äss emol ufä probiere?”
„Ja bitte, funken Sie die ARS mal an.“
Sie begaben sich an die Sendestation in der Einsatzzentrale. Rüthli achtete darauf, dass er dem Kollegen aus Pontresina auf dem Fuß folgte. Der sollte bloß nicht das Gefühl haben, die Angelegenheit wäre nicht dringend.
Nach wenigen Versuchen bekamen sie Funkkontakt. Es knarzte und rauschte zwar, als befänden sich die Gesprächspartner auf einer Mondlandemission, doch es funktionierte leidlich.
„Wa isch? No nüünt gfunde? So öbis abber au!” Ein paar Gesprächsfetzen flogen hin und her. Im Wesentlichen transportierten sie folgende Informationen: Der Suchtrupp irrte in den Gletscherspalten umher und der Bergführer wurde gerade irre, weil er die Stelle nicht mehr wiederfinden konnte, wo die Leiche sein sollte. Es regnete. Die Sicht war schlecht. Nein, die Kriminalpolizei werde nicht gebraucht. Auf keinen Fall sollten sie nachkommen. Das bringe gar nichts. Man würde den vermeintlichen Leichnam schon alleine nicht finden, falls es ihn nicht gebe, da brauche man keine Kripo dazu. Ja, klar, wenn es ihn aber doch gebe, dann werde man ihn selbstverständlich finden. Da sei noch weniger Hilfe der Kriminalpolizei vonnöten. Ja, bitte, die Selbige solle doch einfach unten in Pontresina warten und im Puntschella einen Kaffee trinken. Man melde sich wieder.
*
Der ARS-Rettungstrupp irrte tatsächlich im Nebel umher wie Robert Falcon Scotts letztes Aufgebot auf der Suche nach dem Nordpol. Vorneweg ein zunehmend ratloser Bergführer Bernie, dann fünf mit Rucksäcken, Funkgeräten, Tragegestellen, Schlitten, Akia und Eispickeln ausgerüstete Mitglieder der Alpinen Rettung Schweiz sowie, ganz am Ende der Schlange und nass wie ein Putzlappen, der Polizist aus Pontresina, Wachtmeister Luchsinger. Bergführer Bernie schaute betröpfelt aus der Wäsche. Mutlos hing ihm der Bart unter der Nase. Beide tropften. Jetzt wusste er bald nicht mehr weiter. Sie waren die Gletscherspalte erst aufwärts, dann abwärts abgegangen. Es gab keinen anderen Weg. Nur diese eine Spalte war begehbar. Und Bernie wusste genau, dass er hier mit den Amerikanern und dem Paar aus Deutschland durchgekommen war. Aber wo war die Gletscherleiche geblieben?
Thommy, der ARS-Truppführer in seinem schwarzgelben Antarktis-Overall, trat zu Bernie und legte ihm die behandschuhte Hand auf die Schulter. „Lömmers si, Bernie. Was meinsch? Bi dem Pflotsch finde mr nüüt meh, odder?“
Bernie schüttelte den Kopf.
„Nai! I hannen doch sälber gsähne. Un i han kein Aff cha!”
Es nützte Bernie nichts, zu beteuern, er sei nicht betrunken gewesen. Die Blicke der anderen Bergretter, die ihn umstanden wie das Ärztekollegium in der Psychiatrie den Patienten, sprachen Bände. Denn genau das dachten sie, dass er besoffen gewesen sei. Bernie holte noch einmal sein Handy mit den Aufnahmen heraus, die er von der Gletscherhand gemacht hatte. Der Regen lies die Bedienoberfläche sofort schmierig werden, doch es gelang ihm, nachdem er den Handschuh ausgezogen hatte, das Foto aufzurufen. Er zeigte es herum. Zum wiederholten Male. Leider hatte er versäumt, die GPS-Daten mit abzuspeichern. Er schalt sich einen Trottel dafür. Aber jetzt war es zu spät. Nach seinem Empfinden standen sie genau an der Stelle, wo die Hand hätte sein müssen. Doch nichts als tropfendes Eis und Schnee umgab sie. Aber Moment mal? Schnee? Wieso Schnee? Es hatte doch nicht wirklich geschneit. Und hier unten in der zwanzig Meter tiefen Gletscherspalte bestand doch keine Wand aus Schnee? Er boxte gegen die eisige Schneewand, die sogleich in Abertausende von Eisraspeln zersplitterte, in sich zusammenfiel und zu ihren Füßen in das gluckernde Schmelzwasser hineinkalbte. Der Blick war frei auf eine künstliche Höhlung in der Eiswand. Bernie sprang erschrocken zurück, die ARS-Bergretter ebenso. Die Höhlung maß etwa drei auf zwei Meter und ging fast zwei Meter tief ins Eis hinein. Gegenstände lagen darin: zwei Kettensägen, bereits festgefroren. Zwei Benzinkanister. Ein Fülltrichter. Eine große Blechkiste. Verblüffte Kommentare gingen hin und her. Bernie kniete sich auf die Kante und griff in die Höhle hinein, um einen der Kanister herauszuziehen, als ihn der scharfe Ruf von Wachtmeister Luchsinger stoppte: „Nüünt alängä!“
Bernie lies vor Schreck den leeren Kanister fallen, dieser rutschte auf der abschüssigen Eisfläche aus der Höhle heraus, überschlug sich zweimal, schusselte zwischen den Stiefeln der Suchmannschaft hindurch und wurde vom abfließenden Gletscherwasser holpernd davongetragen. Einer der ARS-Männer schnappte den Flüchtling und hielt ihn triumphierend hoch. Dann stellte er ihn wieder zurück in die Eishöhle.
„De Maa isch gmuggät worre“, stellte Thommy nüchtern fest. Bernie nickte. Fast wirkte er erleichtert. Immerhin war jetzt klar, dass er keinen Blödsinn erzählt hatte. Wachtmeister Luchsinger stellte sich so vor die Höhle, dass niemand mehr hineinfassen konnte. Er drückte höchste polizeiliche Entschlossenheit aus. War das hier tatsächlich ein Leichendiebstahl? Die Männer sahen sich ratlos an. Dann besann sich Thommy der beiden Kriminalpolizisten aus Chur, die vor einer halben Stunde über Funk so genervt hatten. „Hol de Funk ussi, mr sotte jetzt doch ämol aariefe“, kommandierte der Truppführer.
*
Im Café Puntschella in Pontresina war es gemütlich warm gewesen und der Blick durch die große Fensterscheibe hinaus aufs Dorfzentrum bot kurzweilige Unterhaltung. Hier hätten es Urs Rüthli und sein Kollege Pirmin Hürzeler auch den ganzen Nachmittag aushalten können. Aber Rüthli zögerte keine Sekunde, als er von der Entdeckung oben im Gletscher erfuhr: „Wir gehen sofort hin!“ Zwanzig Minuten später saßen sie dick vermummt in Dienstanoraks im geländegängigen Spezialfahrzeug des Polizeipostens Pontresina und ließen sich erst die drei Kilometer bis nach Morteratsch und dann von dort auf dem Gletscherpfad auf den nebelumhangenen Berg hinauf chauffieren. Hürzeler, der vollkommen in seinem Anorak verschwand, plädierte unter Berufung auf die fortgeschrittene Uhrzeit und den schwarzen Himmel unablässig für die sofortige Umkehr. „Wir kommen in die Nacht“, jammerte er. Der Geländewagen machte einen Satz. Rüthli hielt sich am Überrollbügel fest. Hürzeler, der Lulatsch, stieß sich den Kopf an und jammerte weiter.
Unterwegs trafen sie Bergführer Bernie mit vier Mann vom ARS-Rettungsteam. Sie hatten sich bereits auf den Rückweg gemacht. Rüthli ermahnte sie, sich anderntags zur Aufnahme eines Protokolls zur Verfügung zu halten und sammelte alle Adressen ein.
Nach zuletzt noch einem 40-minütigen strammen Fußmarsch erreichten sie endlich die Gletscherspalte und die Stelle, an der Anführer Thommy mitsamt einem inzwischen festgefrorenen Wachtmeister Luchsinger wartete. Urs Rüthli lobte den Tapferen als vorbildlichen Beamten, was in diesem die Bereitschaft weckte, noch die ganze Nacht in der Gletscherspalte Wache zu stehen. Rüthli ließ die Stelle zuerst auf sich wirken, während Bergretter Thommy ihm von der Seite die ganze Fundgeschichte noch einmal haarklein erzählte. Nicht ohne mehrfach zu betonen, dass ihm so etwas noch nie vorgekommen sei. Hürzeler fotografierte aus allen Lagen. Rüthli dirigierte ihn: „Klettern Sie mal hier herauf! Jetzt von oben! Jetzt von unten! Sie müssen den Blitz einschalten, odder! So wird das nichts.“
Inzwischen brach die Dämmerung über sie herein. Es wurde Zeit, die Beweissicherung abzubrechen. Rüthli wäre bereit gewesen, Scheinwerfer anzufordern und auch noch während der Nacht in der stark nässenden Gletscherspalte herumzukriechen. Alles Wichtige hatte er gesehen. Glaubte er.
Fachmännisch bargen sie die Beweisstücke, packten sie einzeln in Plastikmüllsäcke, verstauten alles in der großen Blechkiste und verluden diese auf den Rettungsakia von Thommy. Die beiden Kettensägen waren monströse Maschinen, mit СКАЧАТЬ