Название: Das Erwachen der Gletscherleiche
Автор: Roland Weis
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Lindemanns
isbn: 9783963080111
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„Erst habe ich vermutet, es handelt sich vielleicht um einen vermissten Bergsteiger, maximal um einen Soldaten aus dem letzten Weltkrieg. Aber es ist viel fantastischer.“
Aschendorffer sah sich verschwörerisch um. Als er sicher war, dass niemand mithören konnte, flüsterte er: „Fünfeinhalbtausend Jahre!“
Biesthal sah ihn verdutzt an. Jetzt zeigte ihr Gesicht doch ein gewisses Staunen. Ihr ungläubiger Blick richtete sich auf das Röhrchen, das der Professor immer noch umklammert hielt wie der Exorzist sein Kruzifix.
„Fünfeinhalb ...?“
Aschendorffer nickte eifrig. „Mehrfach überprüft! Ich habe Zellen und Knochengewebe.“
„Das ist unmöglich!“
„Wieso soll das unmöglich sein. Ötzi war genauso alt.“
„Mit dieser Probe haben Sie das herausgefunden?“ Sie deutete zweifelnd mit ihrem schlanken, feingliedrigen Zeigefinger auf das Röhrchen. Aschendorffer war wie immer fasziniert. Der Finger einer Göttin. Sie zog ihn, als sie den besoffenen Blick des Professors bemerkte, wieder zurück und verbarg die ganze Hand in der Seitentasche ihres Laborkittels. Sie besaß sehr wohl eine Ahnung davon, dass Aschendorffer sie vergötterte. Es war ihr lästig. Der Professor war schließlich kein richtiger Mann. Jedenfalls rein äußerlich nicht. Da gefiel ihr Dr. Amresh schon besser. Aber das hätte sie nie zugegeben.
„So ist es!“, bestätigte Aschendorffer.
Frederike Biesthal zweifelte keine Sekunde daran. Sie war es gewohnt, dass Professor Aschendorffer Recht hatte. Seine wissenschaftlichen Fähigkeiten waren atemberaubend, seine Methoden verblüffend, seine Ergebnisse revolutionär. Bei jedem anderen hätte sie Zweifel formuliert und darauf bestanden, dass er seine Untersuchungsmethode transparent machte. Bei Aschendorffer war das nicht nötig. Er war ein Genie und der Schulbuchwissenschaft um Lichtjahre voraus. Wenn er ansonsten auch ein vollkommener Idiot war, als Wissenschaftler musste man ihn bewundern.
„Ein zweiter Ötzi also?“
Aschendorffer nickte eifrig.
„Das macht den Fall nicht einfacher?“
„Wie? Wie meinen Sie?“
War er wirklich so weltfremd, sah er die Schwierigkeiten nicht voraus? „Sie haben diesen Leichnam gestohlen und illegal über die Grenze transportiert. Sie haben ihn heimlich in unser Institut gebracht und unten im Keller in die Tiefkühlkammer gelegt! Es ist Ihnen doch hoffentlich bewusst, dass man Sie dafür vor Gericht bringen kann. Wie wollen Sie auf dieser Basis wissenschaftliche Ergebnisse veröffentlichen?
„Wer sagt denn, dass ich irgendwelche Ergebnisse veröffentlichen will? Außerdem: Wem gehört eine Leiche, die 5500 Jahre im Eis gelegen hat? Die gehört niemandem. Höchstens dem, der sie findet.“
„Sie haben sie ja nicht einmal selbst gefunden.“
„Mona hat sie gefunden. Damit habe ich einen Anspruch!“
„Oh, je!“ Frederike Biesthal seufzte. Mit solch weltlichen Fragen durfte man Aschendorffer nicht kommen. Das ließ ihn unberührt. Sie sah es seinem entzückten Gesicht an. Es war das eines begeisterten Jungen, dem man endlich sein Wunschspielzeug geschenkt hatte.
„Was haben Sie nun vor?“
Aschendorffer lächelte selig. Biesthal wartete auf eine Antwort.
„Was wollen Sie nun tun?“, wiederholte sie. „Diesen Leichnam wieder zurückgeben?“
„Wo denken sie hin!“ Empört plusterte Aschendorffer seine Hühnerbrust auf. „Dieser Leichnam ist ein Geschenk an die Wissenschaft. Ich werde das einzig Wahre tun, was man mit solch einem Zeugen der Vergangenheit tun kann.“
Frederike Biesthal erwartete, dass Aschendorffer nun aufzählen würde, wie er Haut, Knochen, Mageninhalt, Haare, Kleidung und sonstiges Zubehör des Gletschermannes nach und nach aus dem Eis lösen und Stück für Stück untersuchen würde. „Sie tauen ihn auf“, schlug sie deshalb vor.
„Viel besser, viel besser!“, triumphierte Aschendorffer. Er hob das Laborröhrchen empor wie die olympische Fackel: „Auftauen? Das kann jeder.“ Er grinste diabolisch: „Ich werde ihn wieder zum Leben erwecken!“
*
Sie fuhren mit dem Aufzug nach unten ins zweite Kellergeschoss. Das geheime Herz von BioGen befand sich dort, eine dreifach gesicherte unterirdische Zone, zu der nur ausgesuchte Personen Zugang hatten. Neben Aschendorffer und Biesthal waren dies lediglich Amresh, Schröder und Westphal, Institutsleiter Föllstiegel, der aber ohne Not niemals diese Katakomben betreten würde, sowie Meslut Kaymal, der Generalschlüsselverwahrer, und seine sieben Töchter, die BioGen-Putzkolonne.
Im Aufzug sprachen sie nicht miteinander. Frederike Biesthal schaute streng, fast tadelnd. Sie verdaute noch Aschendorffers Ankündigung. Für ihn war die körperliche Nähe im Aufzug eine köstliche Qual, weshalb er weder denken, noch Biesthals Gesichtsausdruck interpretieren konnte. Er drückte sich in die hinterste Ecke. Biesthal kannte Aschendorffers Nöte. Sie hatte ihn durchschaut. Wieso sollte er anders sein, als andere Männer? Alle wollten sie den Frauen an den Rock. Nur in den Methoden unterschieden sie sich. Murji Amresh hielt sich für besonders schlau, weil er sich benahm, als sei er überhaupt kein Mann. Ihm immerhin erlaubte Frederike Biesthal eine gewisse Nähe, weil sie sich in seiner Gegenwart nie ernsthaft belästigt fühlte. Der steife Dr. Schröder spielte den Überkorrekten. Der selbstverliebte Dr. Westphal stolzierte wie ein Gockel und lebte in dem Irrglauben, wenn sich nur seine Hose beulte, würden die Frauen schon von alleine in Ohnmacht fallen. Und Aschendorffer gab den Trottel. Diese Masche war bei vielen Frauen zwar erfolgversprechend, bei Frederike Biesthal aber zog sie nicht. Sie wusste genau, was in seinem erigierten Männerhirn vor sich ging. Widerlich! Sie lächelte kalt, während der Aufzug sie nach unten trug. Der richtige Mann für sie war noch nicht geboren.
Es war nicht so, dass Frederike Biesthal keine Affären hatte. Durchaus gehörten Männerbekanntschaften zu ihren Freizeitbeschäftigungen. Mit Wissenschaftlern ließ sie sich allerdings aus Prinzip nicht ein. Dagegen liebte sie es, verheiratete Industriebosse, Manager, Banker oder Politiker anzukirren und geraume Zeit in ihr Bett zu lassen. Diese Kerle wurde man danach am schnellsten wieder los. Außerdem genoss sie es, vermeintlich starke und unbesiegbare Reiche und Mächtige zu besitzen und so lange mit emotionaler Kälte und körperlicher Raffinesse zu quälen, bis sie wahlweise in die Raserei oder Verzweiflung stürzten. In Wahrheit war sie eine verletztliche, empfindsame, von vielen Zweifeln und Ängsten verfolgte Frau, die gelernt hatte, ihre Empfindsamkeit hinter einer metallischen Schale aus Arroganz, Härte und Abweisung zu verbergen. Der perfekte Mann für sie musste sanft, verständnisvoll, schöngeistig und klug wie Dr. Murji Amresh sein, aber idealerweise auch männlich, stark und selbstbewusst, ohne sich aufzuspielen wie ein Pavian. Dieser Kombination war sie bisher noch nicht begegnet.
Aschendorffer war außerhalb jeglicher Erwägungen. Ein Hanswurst von Mann, völlig indiskutabel. Das erleichterte es gleichzeitig, ihn als Wissenschaftler hoch zu schätzen, um nicht zu sagen, zu verehren. Frederike Biesthal gestand es sich nicht gerne ein, aber mit seinem genialischen Wissen und Können stand Aschendorffer weltweit über allen Fachkollegen. Sie schenkte ihm einen sezierenden Blick. Wie er es wohl anstellen mochte, einer über fünftausend Jahre tiefgefrorenen Leiche wieder Leben einzuhauchen? „Haben Sie schon eine Idee, wie Sie das bewerkstelligen wollen?“, fragte sie, als der Aufzug mit sanftem Wippen den Kellergrund erreichte. Aschendorffer schrak СКАЧАТЬ