Название: Das Erwachen der Gletscherleiche
Автор: Roland Weis
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Lindemanns
isbn: 9783963080111
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War der Kerl wahnsinnig? Aschendorffer kniff Kaymal unauffällig in den Oberschenkel. Aber der fuhr ungerührt fort: „ ... 55 Kilogramme halbe Pilic ...“
„Pilic?“, fragte der Zollbeamte.
„Isse Bratehähne“, korrigierte Kaymal.
„Brathähnchen, ah so!“ Der Zollbeamte hatte verstanden. Er hörte sich noch einige weitere Sekunden lang Kaymals Aufzählung an, dann bat er: „Öffnen Sie doch mal den Laderaum!“
Aschendorffer wog seine Flucht- gegen seine Ausredenalternativen ab. Beide waren wenig ermutigend. Kleinlaut stieg er aus. Kaymal und der Grenzwächter standen bereits hinter dem Lieferwagen. Kaymal löste den Sicherungshebel und klappte die Ladetür auf. Das Innere des Kühlwagens war bis unter das Dach mit Bofrost-Waren gefüllt: Fertigpizzen, gestapelte Gemüseportionen, Fleischmenüs, Speiseeis, hartgefrorene Brathähnchen, handlich wie Rugbybälle, alles von einem feinen Frostreif überzogen. Der Grenzbeamte lies kurz den Blick darüber streifen, tippte mit einem Finger eine Fischstäbchenpackung an, zog sie heraus, prüfte sie kurz und legte sie wieder an ihren Platz.
„Alles in Ordnung. Sie können weiterfahren!“
Kaymal grinste und machte einen devoten Bückling. Aschendorffer stand daneben und glotzte ungläubig. Wo war ihr Eisblock? Hatte Kaymal etwa den Lieferwagen verwechselt?
„Nixe vowechsle“, beschwichtigte der seelenruhig, als sie endlich auf deutsches Hoheitsgebiet rollten. „Habbe nur bissele versteckt!“ Er grinste sein Zampanogrinsen und erklärte, dass er am Morgen vor der Abfahrt den Tiefkühllagerraum eines Lebensmittelmarktes in St. Moritz ausgeräumt und den Lieferwagen mit den Waren zugepackt habe.
Aschendorffer klopfte ihm begeistert auf die Schulter. Er wollte nicht genauer nachfragen, was „Ausräumen“ zu bedeuten hatte.
2
Gendarmerie-Feldweibel Urs Rüthli vom Dezernat Kriminalpolizei bei der Graubündener Kantonspolizei in Chur wippte auf seinem ausgesessenen Schreibtischstuhl, während er den ersten Bürokaffee des Morgens trank und dabei die Protokolle aus den einzelnen Polizeiposten las. Da war übers Wochenende wieder einiges los gewesen: Ein amoklaufender Ehemann in Arosa, Fahrerflucht in Chur, randalierende holländische Hotelgäste in Flims, ein Fall von illegaler Prostitution in Lenzerheide, die Kollegen in Silvaplana hatten einen völlig unterkühlten türkischen Obdachlosen in einer Garage aufgegriffen und vor dem Erfrieren gerettet, der Polizeiposten Samedan meldete den Fund eines herrenlosen deutschen Bergwacht-Ski-Doos in der Flaz. Sachen gibt’s! Rüthli griff sich an die Stirn und fuhr mit der flachen Hand durch das bereits leicht angegraute Bürstenhaar. Kollege Korporal Hürzeler vom Schreibtisch gegenüber registrierte die Bewegung aus den Augenwinkeln und kommentierte sie seinerseits mit einem leichten Anheben der Augenbrauen. Der Rüthli wieder, er regte sich immer auf, wenn irgendwo etwas nicht nach Recht und Ordnung lief. Wie uncool. Hürzeler grinste in sich hinein und widmete sich Wichtigerem.
In Splügen stand ein Hotel in Flammen, in St. Moritz haben Unbekannte im Coop-Markt eingebrochen und die Kühlregale leergeräumt ... Rüthli seufzte. Der Posten Pontresina berichtete von einem Leichenfund im Morteratsch-Gletscher. Rüthli las das Protokoll aufmerksam durch. Die Leiche war noch nicht geborgen. Wegen des schlechten Wetters. Die Unterstützung der Kriminalpolizei wurde angefordert. Seitlich auf den Protokollausdruck hatte der Oberleutnant, Rüthlis Vorgesetzer, ein rotes Ausrufezeichen markiert und „Rüthli“ daneben geschrieben. Das bedeutete, dass er sich noch heute Morgen auf den Weg nach Pontresina machen sollte. Immer noch besser, als der Papierkram auf dem Schreibtisch. Er warf einen Blick zur trüben Fensterscheibe hinaus. Leichter Nieselregen ging über Chur nieder.
Feldweibel Rüthli spähte zum Nachbarschreibtisch hinüber, wo Korporal Pirmin Hürzeler soeben zur dienstlichen Lektüre die „Blick“ aufblätterte. Hürzeler war ein junger Kerl, ein frischer Kollege, der für Rüthlis Geschmack den Beruf nicht ernst genug nahm. Aber er war willig, und Rüthli hatte sich seiner angenommen. „Wir fahren nach Pontresina!“, rief er über die Schreibtische hinweg. „Leichenfund!“.
Widerwillig legte Hürzeler die Zeitung zur Seite und griff nach seiner Uniformjacke. Hürzeler war ein langer Lulatsch, dem die Gendarmerieuniform an den Ärmeln zu kurz, am Kragen zu weit und im Kreuz zu breit geraten war, so dass er darin wirkte wie die Parodie eines Zirkusdompteurs. Aber er stellte keine langen Fragen. Er verließ sich ganz auf Rüthli. Der würde schon wissen, was zu tun war. Er wusste immer Bescheid – ein Vorbild an Diensteifer, Pflichtbewusstsein, Genauigkeit und polizeilicher Aufopferung. In mehr als zwanzig Dienstjahren hatte Rüthli sich vom kleinen Verkehrspolizisten mit mangelhafter Schulbildung langsam und beharrlich nach oben gearbeitet. Dass er es einmal zum Feldweibel mit besonderen Aufgaben bei der kantonalen Kriminalpolizei bringen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Er war kein Überflieger, kein grandioser Ermittler, keine geniale Spürnase. Jeden Schritt, den er tat, überlegte er dreimal und sicherte ihn nach allen Seiten ab. Lieber bewegte er sich gar nicht als falsch. Seine Devise lautete: „Eins nach dem Anderen“. Er verfolgte einen harmlosen Autodiebstahl mit der gleichen Akribie wie einen bewaffneten Banküberfall. Er gehörte zu jener seltenen Sorte von Menschen, die beim kleinsten Online- Kauf die allgemeinen Geschäftsbedingungen ausdruckten und komplett durchlasen. So hielt er es mit jedem Schriftstück, das ihm dienstlich auf den Schreibtisch kam. Er las es zwei- oder dreimal genauestens durch, markierte wichtige Stellen mit gelbem oder grünem Stift, unterstrich einzelne Wörter, bis er sicher war, dass er alles verstanden hatte.
Rüthli war Junggeselle. Frauen hatten es nie lange mit ihm ausgehalten. Oder er nicht mit ihnen. Seine Ansprüche an die äußere Erscheinung einer Frau waren nicht sehr hoch, sie wären an sich kein Hindernis gewesen. Doch seine Erwartungen hinsichtlich der Haushaltsführung und der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau hatten bisher noch jede sich anbahnende Zweisamkeit schnell wieder im Keim erstickt. Rüthli erwartete, dass die Frau seiner Wahl mehr oder weniger das eigene Leben aufzugeben und sich ganz in den Dienst ihres Mannes zu stellen hätte. Eine solche Frau hatte er bislang noch nicht gefunden. Das bereitete ihm aber kein Kopfzerbrechen. Er war sich selbst genug, kochte gerne, bügelte akkurat, besorgte seinen Haushalt mit der gleichen Perfektion, mit der er seine Polizeiaufgaben anging und wusste jedes Mal, wenn er auf eine Kontaktanzeige im Bündner Tagblatt reagierte, wie es enden würde. Nämlich mit einem Reinfall. Dass er sich dennoch mit schöner Regelmäßigkeit darauf einließ, hatte etwas mit seinem Pflichtbewusstsein zu tun. Ein Mann hatte die Pflicht, nach einer Frau Ausschau zu halten, nach einer Lebensgefährtin. Das war eine noch unerledigte Aufgabe in Rüthlis Leben.
Aber für den Moment stand eine ganz andere Aufgabe auf dem Dienstplan: die Leichenbergung im Morteratsch-Gletscher. Das konnte ein Fall für die Kriminalpolizei werden, musste aber nicht. Vielleicht war es ein verschollener Bergwanderer. Ein Verunglückter. Höchstwahrscheinlich war es das, die meisten Gletscherleichen waren von dieser Sorte. Aber ein Toter ist ein Toter. Also fuhr Gendarmeriefeldweibel Urs Rüthli zusammen mit seinem Kollegen Korporal Pirmin Hürzeler unverzüglich hinaus nach Pontresina.
Wie er erwartet hatte, trafen sie die ARS-Bergungsmannschaft der Alpine Rettung Schweiz, Rettungsstation 3.01 Pontresina, nicht mehr an. Der aus fünf Bergrettern bestehende Trupp war bereits zusammen mit einem Polizisten der Polizeistation Pontresina aufgestiegen zum Morteratsch-Gletscher, um dort unter Mithilfe des Bergführers Bernie den Leichnam aus dem Eis zu bergen.
„Wann sind sie losgegangen?“
Der Diensthabende in der Polizeistation von Pontresina warf einen Blick auf die Wanduhr und antwortete: „Z’ Nüni!“ Jetzt war es bereits nach 13 Uhr.
Rüthli kommentierte: „Vor vier Stunden. Dann müssten sie doch schon oben sein, oder?“
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