Das Erwachen der Gletscherleiche. Roland Weis
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Название: Das Erwachen der Gletscherleiche

Автор: Roland Weis

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Lindemanns

isbn: 9783963080111

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СКАЧАТЬ dieser Wanderweg für Fahrzeuge gesperrt war. Kaymal wendete und steuerte den Lieferwagen im Rückwärtsgang in den schmalen Schotterweg hinein. „Fahre so weit wie komme.“ Aschendorffer kontrollierte die GPS-Koordinaten. Der „andere Bruder“ schwieg und qualmte.

      *

      Eine knappe Stunde später standen sie in der Gletscherspalte, die den Leichnam barg. Inzwischen segelten kirschgroße, fette, weiße Schneeflocken vom Himmel. Die Sicht betrug null Meter. Dennoch fand Kaymal mithilfe von Kompass und GPS die Stelle, wo die Leiche im Eis steckte. Kaymals Begleiter steuerte den Motorschlitten, der auf Raupen fuhr, so dass er nicht nur auf Schnee und Eis vom Fleck kam, sondern auch auf Bergwiesen, Schotterhängen und Trampelpfaden, die sie bis zum Erreichen der Gletscherzunge hatten queren müssen. Das war ein abenteuerlicher Ritt gewesen. Die beiden Türken hatten den Schlitten kurzgeschlossen, um ihn zu starten. Professor Aschendorffer wusste, dass dies nichts Gutes bedeutete, sowohl im Hinblick auf die Eigentumsverhältnisse, als auch hinsichtlich der Fahrerqualitäten. Mehr als einmal drohte das Gefährt umzukippen oder steckenzubleiben. Irgendwie schaffte es „anderer Bruder“ aber immer wieder, den Kurs zu halten. Kaymal, der mit Aschendorffer hinten auf der Blechkiste saß, die die beiden Türken auf die Schlittenpritsche geladen hatten, dirigierte seinen Bruder auf Türkisch. Kein Problem für Aschendorffer. Selbstverständlich verstand er Türkisch. Er hatte die Sprache zwar nie gezielt erlernt, aber er kannte sie, wie so viele andere Sprachen auch. Er experimentierte nämlich seit geraumer Zeit mit dem Broca-Areal und dem Wernicke-Zentrum, den beiden Sprachzentren im menschlichen Gehirn. Aschendorffers neurolinguistische Experimente zählten zu seinen vielen Nebenbeschäftigungen. Bei den Kollegen im BioGen lösten sie bisweilen Kopfschütteln aus. Nur wenn der Professor aus heiterem Himmel plötzlich eine kleine Ansprache auf Indisch hielt, schauten alle verblüfft aus der Wäsche und Dr. Murji Amresh lief rot an, weil Aschendorffer ihn als blöden Wichser bezeichnet hatte, der gefälligst Frau Dr. Bliesthal nicht ständig in den Ausschnitt schielen solle. Volltreffer! Was sein Trick dabei war, das verriet Aschendorffer nicht. Aber es sah so aus, als könne er binnen weniger Tage eine völlig neue Sprache in sein Gehirn hämmern und dann auch anwenden. Aschendorffer sprach und verstand auf diese Weise leidlich unter anderem auch Russisch, Chinesisch, Portugiesisch, Finnisch und so etwas Exotisches wie Rätoromanisch. Letzteres könnte ihm vielleicht in dieser Region eine Hilfe sein, sollten sie je auf einen Ureinwohner treffen.

      Der Professor inspizierte die Stelle, wo die Leiche im Eis steckte. Die Hand drohte einzuschneien. Aschendorffer blies sorgfältig die dicken Schneeflocken beiseite. Er nahm eine Lupe zu Hilfe, um die Hand Millimeter für Millimeter abzusuchen. Dabei kniete er im Schnee und wackelte mit dem Kopf. Ungerührt von Schneefall und Kälte und als hätte er alle Zeit der Welt, kramte Aschendorffer ein kleines Etui hervor, in dem er medizinisches Besteck verwahrte. Die beiden Türken schlotterten wie frisch geschorene Hunde. Meslut Kaymal schlug sich die Arme um den Oberkörper, um sich warm zu halten. Trotzdem klapperte er mit seinen gelben Riesenzähnen wie ein aus dem Eismeer geborgener Schiffbrüchiger. Sein schweigsamer „Bruder“ hüpfte von einem Bein auf das andere. Seine pelzig behaarten Füße steckten in speckigen Sandalen. Die türkischen Krummsäbelbeine zitterten in den kurzen Hosen und die üppige Behaarung stand in der Kälte ab wie kleine, spitze Stacheln.

      Seltsamerweise schien der Professor überhaupt nicht zu frieren. Er widmete sich in aller Seelenruhe seinen Untersuchungen. Jetzt setzte er eine feine Kanüle an und nahm eine Biopsie vor. „Kleine Gewebeprobe“, erläuterte er, mehr zu sich selbst als zu den Türken. Dann trat er einen Schritt zurück und nahm die gesamte Situation in Augenschein. Bis auf die Hand steckte die komplette Leiche im Gletschereis. „Wie kriegen wir den Kerl da nur heraus?“ Der Professor kratzte sich am Kopf. Das Schneekäppchen rutschte ihm in den Kragen. Er reagierte nicht darauf.

      „Habbe schon überlegt“, meldete sich Kaymal. Er wies seinen Landsmann an, die mitgeführte Blechkiste zu öffnen. Dort kamen zwei Kettensägen zum Vorschein. Aschendorffer begriff. Die beiden Türken wollten einen kompletten Eisklotz heraussägen. Sie wollten den Leichnam als mobile Tiefkühltruhe bergen. Hervorragend!

      Der Professor nickte anerkennend. „Wo hast du die Sägen her?“

      „Hab ich Onkel. Isse Holzefaller! In St. Märge!“

      Aschendorffer markierte die Umrisse des Leichnams, so wie er ihn hinter der Eiswand vermutete. „Wir müssen sicher gehen, dass wir die Leiche nicht beschädigen. Also machen wir den Eisklotz lieber großzügig. Hier, und hier, und hier!“, eifrig zeigte er die Stellen, wo die Türken sägen sollten.

      Nach mehreren Fehlversuchen warfen Kaymal und sein Gehilfe mit vor Kälte klammen Fingern die mächtigen Motorsägen an. Sie knatterten gierig und stießen gewaltige Abgaswolken aus.

      Die beiden Türken frästen sich von zwei Seiten ins Eis. Es ließ sich schneiden wie Butter, dennoch war es Schwerstarbeit. Kaymal schwitzte trotz der Kälte nach wenigen Minuten. Zwischendurch hielten die beiden inne, damit Aschendorffer den Fortschritt der Arbeiten überprüfen konnte. Aschendorffers Helfer ackerten wie echte Holzfäller. Beide Männer waren, anders als Aschendorffer, keine halben Portionen. Kaymal besaß den Brustkasten eines olympischen Ringers. Sein angeblicher Bruder sah aus wie Ben Hur mit dem Gesicht von Omar Sharif. Beide schufteten schweigend. Nur gelegentlich stießen sie pfeifend den Atem aus. Sie mussten den Eisklotz von allen Seiten in mehreren Etappen schräg ansägen, so lösten sie das Eismaterial rund um den frostigen Sarg. Schließlich mussten sie auf dessen Rückseite gelangen, um den Fund gänzlich frei zu sägen. Sie bohrten ihn mehr oder weniger aus dem Gletscher heraus.

      Aschendorffer erkundete unterdessen das Gelände. Wegen des Schneefalls sah er keine zwei Meter weit. Über dem Morteratsch-Gletscher hing milchiger Bühnennebel. Fette Schneeflocken verdeckten alle Spuren.

      Die Blechkiste musste runter von der Pritsche des Motorschlittens. Meslut und sein Partner bohrten zwei Klettereisen in ihren herausgesägten Eisklotz, und zerrten ihn an mächtigen Abschleppseilen aus dem Gletscher heraus. Er glitt fließend in die bereitgestellte Schlittenpritsche, als hätte ein Dutzend Hochleistungsingenieure diesen Vorgang berechnet. Der Schlitten ging in die Knie.

      Kaymal grinste: „Steckt drinne wie Schneefittschel!“, kommentierte er.

      Der Professor zog tadelnd eine Augenbraue nach oben: „Schneewittchen“, korrigierte er.

      Kaymal grinste weiter: „Sagge ich doch: Schneefittschel.“

      Die Türken nestelten mit ihren blaugefrorenen Fingern durchnässte Zigaretten aus den Brusttaschen ihrer Hemden und beratschlagten beim Qualmen ihr weiteres Vorgehen. Dies hier war ihr Projekt. Sie zurrten den Eisklotz auf dem Schlitten fest. Der Professor stand zwar daneben, hatte aber nichts zu sagen. Er erfuhr das Ergebnis der Beratungen: „Zwei Mann musse laufe nebbe die Schlitte un abstütze! Ein Mann isse Fahrer! Geht Berge abwärts, isse einfach!“

      Das war ein großes Wort. Es war klar, dass Aschendorffer nicht der Fahrer sein konnte. „Ich tue mein Bestes“, versprach er. „Wenn nur der Schlitten nicht umkippt.“

      Bevor sie den Platz ihres Grabraubes verließen, deponierten die beiden Türken noch die Blechkiste mit den beiden Motorsägen in dem großen Eisloch, das sie ins Gletschereis gesägt hatten. „Schneit zu und isse weg!“, behauptete Kaymal.

      *

      Wie sie es schafften, Schlitten, Eis, Leichnam und Professor unversehrt bis zum Lieferwagen zu bringen, bleibt das Geheimnis der beiden anatolischen Hochgebirgsjäger. Es dämmerte bereits, als der Eisklotz mit der Gletscherleiche wohl verwahrt im Kühlregal des Lieferwagens lag. Während Aschendorffer noch immer behaglich warm und entspannt wirkte, zitterten die erschöpften Schwerarbeiter. Kaymal rotzte geräuschvoll in den Schnee, warf die Heckklappe des Lieferwagens zu und verriegelte sie. „Schnell abfahre!“, kommandierte er und kletterte selbst auf den Fahrersitz. СКАЧАТЬ