Название: Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band)
Автор: Rosa Luxemburg
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075833211
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Einunddreißigstes Kapitel.
Schutzzoll und Akkumulation
Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der gewaltigen Masse des bereits akkumulierten Kapitals der alten kapitalistischen Länder, das um die Absatzmöglichkeiten für sein Mehrprodukt wie um Kapitalisierungsmöglichkeiten für seinen Mehrwert ringt, gemessen ferner an der Rapidität, mit der heute Gebiete vorkapitalistischer Kulturen in kapitalistische verwandelt werden, mit anderen Worten gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitals, erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen des Kapitals auf der Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten.
Die Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung der Kapitalakkumulation, auf den "Handel und Gewerbe, die nur bei Frieden gedeihen", die ganze offiziöse manchesterliche Ideologie der Interessenharmonie zwischen den Handelsnationen der Welt - die andere Seite der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit - stammt aus der Sturm-und-Drang-Periode der klassischen Nationalökonomie und schien eine praktische Bestätigung zu finden in der kurzen Freihandelsära in Europa in den 60er und 70er Jahren. Sie hat zur Grundlage das falsche Dogma der englischen Freihandelsschule, als sei der Warenaustausch die einzige Voraussetzung und Bedingung der Kapitalakkumulation, als sei diese mit der Warenwirtschaft identisch. Die ganze Ricardoschule identifizierte, wie wir sahen, die Kapitalakkumulation und ihre Reproduktionsbedingungen mit der einfachen Warenproduktion und mit den Bedingungen der einfachen Warenzirkulation. Noch mehr tritt dies später bei dem praktischen Freihändler vulgaris zutage. Die ganze Beweisführung der Cobden-Liga war zugeschnitten auf die besonderen Interessen der exportierenden Baumwollfabrikanten von Lancashire. Ihr Hauptaugenmerk war darauf gerichtet, Käufer zu gewinnen, und ihr Glaubensartikel lautete: Wir müssen dem Auslande abkaufen, damit wir wiederum als Verkäufer der Industrieprodukte, will sagen: der Baumwollwaren, Abnehmer finden. Der Konsument, in dessen Interesse Cobden und Bright den Freihandel, namentlich die Verbilligung der Nahrungsmittel, forderten, war nicht der Arbeiter, der das Brot verzehrt, sondern der Kapitalist, der die Arbeitskraft verzehrt.
Dieses Evangelium war nie der wirkliche Ausdruck der Interessen der Kapitalakkumulation im ganzen. In England selbst wurde es schon in den 40er Jahren durch die Opiumkriege Lügen gestraft, die mit Kanonendonner die Interessenharmonie der Handelsnationen in Ostasien proklamierten, um mit der Annexion von Hongkong in das Gegenteil, in das System der "Interessensphären" umzuschlagen. 258 Auf dem europäischen Kontinent war der Freihandel der 60er Jahre schon aus dem Grunde kein Ausdruck der Interessen des industriellen Kapitals, weil die führenden Freihandelsländer des Kontinents in jener Zeit noch vorwiegend agrarische Länder, ihre Großindustrie noch verhältnismäßig schwach entwickelt war. Das Freihandelssystem wurde vielmehr als Maßnahme der politischen Konstituierung der mitteleuropäischen Staaten durchgesetzt. In Deutschland war es in der Manteuffelschen und Bismarckschen Politik ein spezifisch preußisches Mittel, Österreich aus dem Bund und dem Zollverein herauszudrängen und das neue Deutsche Reich unter Preußens Führung zu konstituieren. Ökonomisch stützte sich der Freihandel hier nur auf die Interessen des Kaufmannskapitals namentlich des am Welthandel interessierten Kapitals der Hansastädte, und auf agrarische Konsumenteninteressen; von der eigentlichen Industrie ließ sich die Eisenproduktion nur mit Mühe um die Konzession der Abschaffung der Rheinzölle für den Freihandel gewinnen, die süddeutsche Baumwollindustrie aber blieb unversöhnlich in der schutzzöllnerischen Opposition. In Frankreich waren die Meistbegünstigungsverträge, die die Grundlage für das Freihandelssystem in ganz Europa gelegt haben, von Napoleon III. ohne und gegen die kompakte schutzöllnerische Mehrheit des Parlaments aus Industriellen und Agrariern abgeschlossen. Der Weg der Handelsverträge selbst wurde von der Regierung des Zweiten Kaiserreichs nur als ein Notbehelf eingeschlagen und von England als solcher akzeptiert, um die parlamentarische Opposition Frankreichs zu umgehen und hinter dem Rücken der gesetzgebenden Körperschaft auf internationalem Wege den Freihandel durchzusetzen. Mit dem ersten grundlegenden Vertrag zwischen Frankreich und England wurde die öffentliche Meinung in Frankreich einfach überrumpelt.259 Das alte Schutzzollsystem Frankreichs wurde von 1853 bis 1862 durch 32 kaiserliche Dekrete abgetragen, die dann 1863 in lässiger Beobachtung der Form insgesamt "auf gesetzgeberischem Wege" bestätigt wurden. In Italien war der Freihandel ein Requisit der Cavourschen Politik und ihres Anlehnungsbedürfnisses an Frankreich. Schon 1870 wurde unter dem Drängen der öffentlichen Meinung eine Enquete eröffnet, die den Mangel an Rückhalt für die freihändlerische Politik in den Interessentenkreisen bloßgelegt hat. Endlich in Rußland war die freihändlerische Tendenz der 60er Jahre nur erst eine Einleitung zur Schaffung einer breiten Grundlage für die Warenwirtschaft und die Großindustrie: begleitete sie doch erst die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Herstellung eines Eisenbahnnetzes.260
So konnte der Freihandel als internationales System von vornherein nicht mehr als eine Episode in der Geschichte der Kapitalakkumulation bleiben. Schon aus diesem Grunde ist es verkehrt, die allgemeine Umkehr zum Schutzzoll seit Ende der 70er Jahre lediglich als eine Abwehrmaßregel gegen den englischen Freihandel erklären zu wollen.261
Gegen diese Erklärung sprechen die Tatsachen, daß in Deutschland wie in Frankreich und Italien bei der Umkehr zum Schutzzoll die führende Rolle den agrarischen Interessen zufiel, die sich nicht gegen die Konkurrenz Englands, sondern gegen die der Vereinigten Staaten richteten, daß im übrigen das Schutzbedürfnis für die aufkommende einheimische Industrie in Rußland sich z.B. viel stärker gegen Deutschland, in Italien aber gegen Frankreich richtete als gegen England. Die allgemeine dauernde Depression auf dem Weltmarkt, die sich seit der Krise der 70er Jahre hinzog und die Stimmung für den Schutzzoll vorbereitet hatte, war ebensowenig mit Englands Monopol verbunden. Die allgemeine Ursache der schutzzöllnerischen Frontänderung lag denn auch tiefer. Der reine Standpunkt des Warenaustausches, dem die freihändlerische Illusion der Interessenharmonie auf dem Weltmarkt entstammte, ist aufgegeben worden, sobald das großindustrielle Kapital in den wichtigsten Ländern des europäischen Kontinents so weit Fuß gefaßt hatte, um sich auf seine Akkumulationsbedingungen zu besinnen. Diese aber schoben gegenüber СКАЧАТЬ