Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Nachdem er den vorletzten Satz ins sinkende Grau der Luft gesandt hatte, wieder, als breche er ein monotones Lied ab, fügte er das andere murmelnd hinzu und sah mit auf die Brust geneigtem Haupte weiten Auges die Diele hin.
»Du wirst vieles an mir seltsam finden,« setzte er dann mit einer vor Erregung matten Stimme fort, »für mich aber ist das Seltsamste, daß ich dich zum Ende rief und nun am Anfang stehe. Entweder ist meine Kraft meine Schwäche, oder dies Zagen bis in meine Seele hinein der einzige Weg zu meinem Frieden; du mußt wissen, es gibt Stunden im Menschenleben, in denen die Worte ihre gewohnte Bedeutung verlieren und die Gedanken wie Vögel in der Nacht sich bewegen, von denen man wohl den Flug hört, aber nicht weiß, welche Richtung sie nehmen.«
Dann schwieg er, und ich fühlte dies Zagen als eine erneute Aufforderung, ihn auf dem Wege weiter zu führen, den er so gerne gegangen wäre.
»Lieber Faber,« sprach ich dann, »rede alles, was du sagen mußt. Sicher bist du in einer jener Stimmungen, in denen Menschen die Tragweite ihrer Gedanken nicht mehr erfassen, und sie brauchen ein anderes Hirn zu ihrem Bewußtsein und ein anderes Ohr, ihre eigenen Worte zu hören und zu verstehen. Rede, und wenn du es forderst, so soll nie ein Wort dieser Nacht über meine Lippen kommen.«
»Ich fordere nichts von dir, als was du selbst von deiner Seele verlangst«, sprach er mit schwacher Stimme, und jedes seiner Worte klang fremd, als läge in ihm schon der Duft und Ton einer anderen Zeit.
»Siehst du, Kastner, wenn ich in mein Leben zurücksehe, so gleicht es ganz dieser Dämmerlandschaft, in der alles Bekannte ungenau, verschwommen, grotesk, alles Fremde sicher und vertraut erscheint. Sicher ist nur der in den Schatten vor sich, der die ungezügeltste Einbildung hat. Jeder Tag aber, den wir neu leben, sollte die makellose Folge unserer ganzen Vergangenheit sein. Wenn du mich heute so verstört und wirr gesehen hast, so ist nichts daran schuld, als daß ich an meinem Leben irr geworden bin, in dieser Unsicherheit jahrelang umsonst von den Schatten meiner Vergangenheit Klarheit verlangte und heute einen Entschluß gefaßt habe, der mir glücklich schien, solange ich allein war. Sobald du aber in meinem Hause mir gegenüberstandst, empfand ich ihn als eine qualvolle Verfehlung.
Es ist wahr, der Einsame geht an sich eher in die Irre als der Laute im Strom der Menge. Das Heiligste verträgt den allzu scharfen, zudringlichen Blick nicht. Mit jenen Gründen, aus denen unser Wesen steigt, verbindet uns am stärksten ein vertrauensvolles Ahnen. Doch, was nutzt es? Unter meinem leidenschaftlichen, zweifelsüchtigen Bohren löste sich die Welt meiner Vergangenheit zum Spuk auf. Alle Schatten tränkte ich mit meinem Sinnen, und wenn ich sie jetzt frage, so antworten sie mir mit meiner Unruhe. Aber vielleicht sind wir Menschen alle Ströme, die im Sande verkommen. Vielleicht auch ging ich schon fehl, als ich meiner noch sicher zu sein glaubte. Vielleicht ... vielleicht ...«
Kopfschüttelnd brach er ab, setzte sich auf den Stuhl neben sich, sah zu Boden und schwieg. Ich berührte ihn leise mit der Hand an der Schulter, und als er fragend das Gesicht zu mir erhob, sagte ich:
»Faber, traust du mir nicht?«
Hastig ergriff er meine Hand, und sie herzlich drückend, stieß er hervor: »Nein, nein, ich muß – ich muß mein ganzes Leben noch einmal durchkosten; dann wird es sich ja zeigen, ob ich zu Grunde gehen muß oder nicht. Jedenfalls will ich nicht gleich einem Narren zufällig in eine Grube stolpern und darin umkommen.«
Dann lehnte er sich zurück und sah lange in die Nacht über sich, um endlich mit ganz leiser Stimme seine Erzählung zu beginnen:
»Es läßt sich streiten, ob es besser sei, von seinen Ahnen zu wissen, oder über die Geschichte seines Geschlechtes im Unklaren zu bleiben. Sicher hat manchen der böse Geist deswegen unterjocht, weil die Versuchungen seines Blutes und die Kenntnis der Eigenschaften seiner Väter in ihm die Überzeugung hervorbrachten, er sitze in den Klammern eines unentrinnbaren Fatums. Jedenfalls weiß ich von meinen Voreltern gerade so viel und so wenig, daß meine Phantasie Boden genug hat, allerhand abenteuerliche Möglichkeiten für wahr zu halten.
Gesehen habe ich von meinen Großeltern keines, und das Gesicht meiner Großmutter, von kindlichen Einbildungen geschaffen, schimmert manchmal aus der untersten Schicht frühester Erinnerungen neben den Rätselgestalten erster Märchen zu mir her, daß es geheimnisvoll und niegewesen wie diese erscheint. Trocken, herb und bitterböse starrt es aus einem roten Nebel herauf, und jene schreckhafte Luft steht um sie, die das Erscheinen des Alps in dämmrige Kinderzimmer bringt. Noch heute, wenn ich mit zurücksinkendem Gefühl mich jenen Gegenden meiner Seele nähere, in der ihr Abbild ein spukhaftes Leben führt, überkommt mich eine solche Beklemmung, daß ich mit meinem Blick ins Licht entrinnen muß.
In heidnischen Städten bauten die Priester das Bild furchterregender Gottheiten auf einem Hügel über allen Dächern, damit die Menschen sich dem Banne überirdischer Not nie entziehen könnten. So wirkte das Leben dieser Frau auf das Schicksal unserer Familie.
Nur selten, und dann vorsichtig und karg sprachen meine Eltern über die Geschicke meiner Ahnen, und so sind diese gelegentlichen Bemerkungen und ein Brief, den ich nach dem Tode meines Vaters in der Schublade seines Stehpultes fand, die einzigen Quellen für die Geschichte meiner Großeltern. Danach stammten beide aus Baden, und mein Großvater bekleidete beim Ausbruch der Revolution ein höheres juristisches Amt. Nach dem Schreiben zu urteilen, das er aus Offenburg an seine Frau, meine Großmutter, richtete, muß er ein unruhiger, leidenschaftlicher Mann gewesen sein. Als er, um der Freiheit besser dienen zu können, seine Stelle im Stich ließ, ging meine Großmutter von ihm und suchte mit ihren beiden Söhnen, damals noch Knaben im zarten Alter, vor der steigenden Unruhe Schutz auf dem väterlichen Gut im Elztal. Aus dem eben erwähnten Briefe ist zu entnehmen, daß meine Großmutter damals noch eine, wenn auch feste und stolze, aber im Grunde heitere Frau gewesen sei, die nicht bloß aus Ärger über Vernachlässigung den Mann auf Zeit verließ, sondern vor allem deswegen in den Wald auswich, weil ihr diese allgemeine Gleichmacherei und der Sturm auf geheiligte Institutionen mit Hilfe ausländischer Abenteurer ein Greuel war.
Aber die Abwendung seiner Familie trieb meinen Großvater nur immer tiefer in den Trubel. Er zog am 13. Mai mit vor das Großherzogliche Schloß, reiste ruhelos im Lande umher, um die Unzufriedenheit zu schüren, und als durch den Einmarsch der Preußen das wirre Freiheitsregiment in Gefahr geriet, trat er in die Armee der Insurgenten ein. Auf diese Nachricht verließ meine Großmutter heimlich ihre Eltern und wagte sich, als Bäuerin verkleidet, unter die Aufrührer, nicht, um an dem Kampfe teilzunehmen, sondern ihn im letzten Augenblicke vor dem Schlimmsten zu bewahren und zu sich herüberzureißen. Aber sie kam zu spät. Im Treffen bei Waghäusel ereilte ihn sein Geschick. Als nämlich an diesem Tage auf die Kunde vom Herannahen des Groebenschen Korps die Freischärler den Widerstand aufgaben und die Flucht ergriffen, stürzte er, wohl aus Verzweiflung und Zorn über ihre Feigheit, allein gegen die feindlichen Bajonette und fand so den Tod, den er gesucht hatte. Meine Großmutter hat seinen Leichnam vom Felde geholt und begraben. An diesem Tage wurden wohl ihr Lebensmut und ihre ganze Seele mit verscharrt. Sie verließ ihre Heimat und kam 1850 nach Heisterberg. Schon damals soll sie das Aussehen einer Greisin gehabt haben, ein langes, mageres Gesicht voll tiefer Längsfalten, die hohe Stirn gefurcht, und einen bitteren, drohenden Ernst in den schwarzen Augen. Bis an ihr Lebensende ging sie nie anders als in tiefer Trauer; nicht nur der Kleidung nach.
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