Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Es war in der Mitte der fünften Nachmittagsstunde. Ich setzte mich, auf der Anhöhe angelangt, abseits vom Wege, mitten im Birkenwäldchen auf einen Stein und sah nach Wecknitz hinunter. Das Licht der weißen Stämme war um mich und mir schien es, als sei ich von einem heiteren, lichten Schreine eingeschlossen.
In dem Weberdörflein drunten blühten alle Obstbäume, und Wecknitz sah nicht aus wie eine Menschensiedlung, sondern wie ein See aus weißen und rosa Wogen. Die grauen Hausdächer schwammen darin wie unbewegliche, halbversunkene Kähne, vermorscht und verlassen. Das Poltern der Webstühle schien von Wellen der Tiefe herzurühren, die gurgelnd und stoßend einem verborgenen Ausweg zuströmten. Mitten ragte die Schule, plump und trostlos wie das festsitzende Wrack eines größeren Fahrzeuges über die schimmernden Wogen des Blütensees. Ein leiser Wind war erwacht, und lautlos leckte der weiße Schaum an den alten Planken empor.
Meine junge Seele verfing sich in Träumen, aus denen mich die schnelle Kühle des Frühlingsabends aufriß. Es war dreiviertel sechs Uhr geworden und dunkelte schon ganz leicht. Der Dunst war von der Erde aufgestiegen und schwamm vor einem mäßigen Winde als Gewölk am Himmel hin. Die Sonne begann hinter die Waldmauer der Feistelberge hinunterzuglühen, während durch die Wolken im Osten die blassen Lichtschleier des aufgehenden Vollmondes wehten. In Sätzen sprang ich den Abhang hinunter und bog wahllos auf einem der vielen schmalen Hühnersteige in das Gewirr der Obstbäume ein. Nach einigem Hin und Her stand ich vor der Schule, das heißt, ich stutzte ein wenig an dem engen Zugange, der durch ein Vorgärtchen an die wenigen Stufen führte, die zu erschreiten waren, ehe man an die einfache Tür gelangte. Der lange Schrotbau lag mit den geschlossenen Fenstern seiner niedrigen Front in einer Art mürrischer Einsamkeit auf einem Hügelchen, auf den es hinaufgeklettert zu sein schien, um zu allen Tagesstunden den Kinderchen wie eine lebendige Mahnung vor Augen zu stehen.
Ich stand an dem Brunnen, dessen Wasser sich immer gurgelnd verfing, und stellte mit dem geheimen Wunsche Betrachtungen an, Faber möge mich bemerken und mir entgegengehen, um so unserer Annäherung den peinlichen Beigeschmack zu nehmen. Bald jedoch erkannte ich, daß er als Bittender von seinem Stolz nie die Erlaubnis zu dieser Demütigung erhalten würde. So trat ich in den Hausflur, der von jener maukigen Luft erfüllt war, die die offenen Lehrzimmer in alle Teile der Schule zu senden pflegen. Das Schulzimmer war ein getünchter, kahler Raum, groß und niedrig. Ihm gegenüber, ein wenig schief in der Bohlenwand sitzend, die Tür wohl zur Lehrerwohnung. Ich klopfte. An dem lauten Ton erkannte ich, daß das Zimmer leer sei. Ich schritt an einer engen Holztreppe vorüber, die jäh in das Dämmern des Bodenraumes aufstieß, und kam an die Tür nach dem Hofe. Hier hörte ich Menschenstimmen. Ich konnte nicht gleich entscheiden, ob sie aus dem Hofe drunten klangen, oder in irgendeinem Raume des Hauses eingeschlossen waren. Da fiel mein Blick auf eine vernutzte Tür, links neben dem hinteren Ausgang. Richtig, hier war es. Eine schmerzvolle Mädchenstimme redete bittend in langem Strome. Schonend und ruhig erklang die Stimme des Mannes. Das Gespräch kam gegen die abgenutzte Tür. Ich sprang auf den Zehen schnell in den Hausflur zurück, um hinter die Bodentreppe zu treten. Unterwegs fiel mir der Stock aus der Hand und polterte auf die Steinfliesen. Ehe ich ihn aufheben konnte, ging die Tür auf. Faber trat auf die Schwelle, erkannte mich sogleich und half mir über die Betretenheit, in die ich geriet, daß er mich herzlich begrüßte. Seine Lustigkeit war schlaff und gezwungen. Das Gesicht übernächtig und gealtert, und während er meinen Worten zu lauschen schien, schaute er, etwas anderem nachsinnend, zu Boden und begann, gedankenvoll seine ungewöhnlich langen Füße voreinander setzend, im Flur hinzuwandeln. Auf der Schwelle der Haustür hielt er an.
»Meine Karte ist eigentlich gegenstandslos geworden«, sagte er und lächelte mich traurig an.
»Bin ich zu spät gekommen?«
»Ja – und nein.«
Und als er sah, daß ich die Krücke meines Stockes fester umspannte, setzte er fort: »Aber, damit will ich Sie natürlich nicht verjagen. Wir wollen sehen.«
Wiederum schaute er zu Boden, schob mit der Spitze seines rechten Fußes irgend etwas zur Seite, rückte sich dann herauf und sprach im Hausflur hin:
»Liese! Machen Sie das Abendbrot zurecht.«
Ein gehorsames und ergebenes »Ja« antwortete, und ich sah, leise und eilig, ein Mädchen zur Hoftür hinaushuschen, das von einer seltenen Zierlichkeit war.
»Es ist die Tochter meines Nachbars, des alten Plaschkewebers. Sie besorgt die wenigen Aufwartedienste«, erklärte mir Faber, und seine Stirn umwölkte sich.
»Sie haben Verdruß mit ihr gehabt?« fragte ich. –
»Mit ihr nicht, mit mir, und zwar habe ich ihn jetzt«, antwortete er und sah gleich mir in das geöffnete Klassenzimmer, vor das wir getreten waren. »Haben Sie den Geruch überwunden?« fragte er nach einer Weile.
»Nun – freilich spür' ich ihn auch noch, aber was will man machen?«
»Eben, eben! Man will eben nichts machen. Durchaus will man nicht.«
Er lachte bitter und kehrte sich um.
»Haben Sie Lust, noch mein anderes Leben zu sehen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, das Schulhaus ist so ein Symbolum meines Lebens. Denn es ist morsch, unwohnlich und gewährt mir nur noch in einem Winkel Unterschlupf.«
»So, sans phrase«, entgegnete ich leicht.
»Natürlich, sans phrase! Bloß so.« Er sprach eigentlich nicht mit mir, sondern redete nach Art der Einsamen mit sich, bitter und spöttisch, voll Hohn gegen sich.
Wir standen vor der Treppe zum Boden. »Da unten sind noch drei Zimmer und die Küche, aber...« Die Liese kam eben zur Hoftür herein. Faber unterbrach sich und sah nach dem Mädchen. Unter seinem Blick hielt es an.
»Wie Sie es gesagt haben, Herr Lehrer?« fragte sie mit glücklicher Unterwürfigkeit.
»Ja«, erwiderte Faber merkwürdig rauh.
Mit einem Glanz im Gesicht verschwand sie hinter der vernutzten Tür.
»Sie meint meine Anweisungen zum Abendbrot«, sagte Faber erklärend, und wiederum schlug sich die Falte tiefer über seiner Nasenwurzel nach der Stirn hin.
»Sie hat ganz sonderbar schöne, braune Haare«, bemerkte ich.
»Außerdem kocht sie ganz gut«, sprach er ironisch. »Ja, und dann dächt' ich, wir gingen nun in meine Bude. Bitte!«
Unter beißendem Lachen sprang er die Treppe hinauf. Er lief so schnell, daß ich ihm nicht folgen konnte. Noch ehe ich die steile Stiege emporgeklommen war, schloß er die Tür, und ich befand mich allein in einem schummrigen Dunkel. Halb von Grimm, halb von Scham erfüllt, kam ich im Aufstieg mit der Rechten an ein rauhes Gemäuer, das sich mir als der riesige Schornstein offenbarte, und stand gleich darauf an der niedrigen Tür. Eben kochte in mir der Zorn, und im Hineintreten fragte ich unvermittelt: »Ja, warum bin ich nun eigentlich zu spät gekommen?« stieß, während ich diese rauhen Worte sprach, schon nach dem dritten Schritt in die Stube an einen Stuhl und setzte mich, als sei ich von Faber dazu eingeladen worden. Der antwortete nichts, sondern kramte in einer geöffneten Kiste umher, aus der er bald dies, bald jenes Kleidungsstück herausnahm und in den rechts neben dem Eingang stehenden Schrank СКАЧАТЬ