Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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»Na, was siehst du denn so eigen auf mich, Franzel?« fragte sie mich unter glühendem Erröten.
»Wenn du die Haare so hast wie vorhin, kannst du da auch eine Königin werden?« fragte ich wieder.
Da stürzte sie auf mich zu und küßte stürmisch mein ganzes Gesicht, indem sie mich immerfort dummes Franzel nannte. Das gefiel mir nicht lange, und ich wollte aufstehen. Während sie aber sonst beim Anziehen mit mir sehr übermütig war und mich oft unversehens in die Luft schwang und herumtanzte, klagte sie diesmal über Schmerzen in der Brust, als sie mich auf den Stuhl hob. Ich aber achtete nicht darauf, daß sie dasaß, die Hände auf den Schoß faltete und schwer nach Atem riß, sondern schlug mich schon wieder geheim mit Bedenken, was werden solle, wenn der Wind einmal unser Haus einstieß.
»Kann Peter auch Wind blasen?« fragte ich.
»O ja«, antwortete sie.
»Solchen Wind, wie er in den Bäumen schläft und über unser Haus geht?« drang ich wieder in sie.
»Nein, solchen nicht«, gab sie mühsam zur Antwort.
»Aber der Luftwind kann ein Haus einschmeißen?« fragte ich weiter.
»Freilich«, antwortete sie leise.
»Und den Himmel auch und die Sterne auslöschen?« So belästigte ich sie in einem fort.
Anna legte endlich die Hand auf meinen Kopf. Da fühlte ich, wie sie leise zitterte, und ich hörte auf, von dem Winde zu sprechen, damit sie sich nicht noch mehr ängste. Dann gingen wir in den Garten an Murr vorüber, der vor seiner Hütte saß und freudig den Schwanz im Grase rührte. Sonst mußte er »Schön« vor uns machen und das Pfötchen geben. Heute aber wandelten wir an ihm vorbei, und er hörte auf zu wedeln, hielt gedankenvoll den Kopf schief und sah uns ernst an.
Es war ein ganz stiller, weißleuchtender Maimorgen, die Bäume ragten viel höher in den Himmel als sonst, dann und wann fiel eine Blüte aus den Kronen in das Gras herunter und lag dann im Grün, als sei sie aus der Erde gewachsen. Ich fragte, ob die andern Blumen auch aus dem Himmel kommen, und meine Schwester sagte ja, das geschehe in der Nacht, wenn alle Menschen schlafen. Sie fallen von dort her zu uns, wo die Sterne blühen. Deswegen sehen die meisten auch aus wie Sterne, und manche sind weiß und gelb wie diese. Die Kinder und alle Menschen stammen auch aus dem Himmel und dürfen dahin zurückfliegen, wenn sie müde geworden sind auf der Erde. Dann wandeln sie droben zwischen den Sternen, wie sie hier unten an den Blumen hingegangen sind.
Wir spielten an der rechten Langseite des Gartens auf und nieder, wo eine Reihe Stachelbeersträucher standen, unter deren Blättern schon kleine, grüne Beerchen hingen. Denn an Sebalds hohen Bretterzaun wagte ich mich nur ganz selten, weil wir uns vor dem Manne fürchteten, den noch niemand gesehen hatte. Es ging das Gerücht unter uns Kindern, es sei ein mißgestalteter Zwerg, der immer mit einer scharfen Hacke hinter dem Zaune auf uns lauere. Wir hörten ihn manchmal unter bösem Murmeln Steine an die Bretter werfen oder mitten in unser Singen und Spielen mit schriller Stimme schimpfen. Deswegen zog ich meine Schwester auch an diesem Morgen zurück, wenn sie sich allzunahe an den Haselstrauch heranwagte, der in der Ecke nach Sebalds Garten breit und ungestört wucherte. Indessen stand mein Mund nicht still. Aus den großen, blauen Augen, mit denen Anna meinem Heraufschauen immer voll stiller Güte begegnete, schöpfte ich einen Mut zu Bekenntnissen aus dem Innersten der Seele, der mein Herz beklemmte und doch antrieb, sich immer aufs neue zu offenbaren.
»Nicht wahr,« fragte ich meine Schwester weiter, »der Wind trägt die Leute in den Himmel?«
»Nein, das tun die Engel«, sprach sie. »Die sendet Gott jedesmal, wenn ein Mensch auf Erden im Tod liegt«, antwortete sie und stand still und sah über sich, wo im hellen Blau eben ein paar weiße Wölkchen schwammen. »Sieh dort, so weiß sind ihre Kleider, und so unhörbar wie die Wolken nahen die Engel den Menschen und nehmen sie mit sich.«
Lange schauten wir den glänzenden Wolken zu, so lange, bis sie im Lichte zergingen. Mir war recht ängstlich zu Mute, daß die Engel, die die Leute von der Erde holen, so nahe über uns flogen, deswegen atmete ich erleichtert auf, als sie verschwunden waren.
»Aber den Sebald, der immer mit der Hacke hinter dem Zaune steht, den holen die Engel nicht, wenn er stirbt,« sagte ich nach einigem Sinnen, »den graben die Männer in die Erde,« fragte ich weiter.
Aber Anna gab mir darauf keine Antwort, sondern fuhr mir nur mit zitternder Hand wieder über die Haare.
Um die Stachelbeersträucher wuchsen viele Blumen, besonders goldgelbe, deren Blütenblätter schön regelmäßig um einen noch satter gefärbten Knopf in der Mitte wie die Speichen eines winzigen Rades standen. Wir nannten sie Spinnrädchen und liebten sie mehr als die andern Blumen dieser Zeit. Anna sagte plötzlich, sie sei müde und setzte sich. Ich war damit einverstanden, weil ich glaubte, sie wolle mir einen Kranz flechten. Aber kaum hatte sie sich niedergelassen, als sie sich zurücklehnte, die Arme rückwärtig unterstützte und schwer nach Atem rang. Ihre Wangen waren weiß, und Mund und Augen öffnete sie so weit, daß ich meinte, sie wolle »Sterben« spielen. Doch sie erhob sich wieder, sammelte keuchend und übereilig Blumen auf ihre Schürze und begann sie zu ordnen. Ich sprang auf und holte auch Blüten, soviel meine kleinen Hände zu fassen vermochten. Anna saß und beugte sich über ihre Hände. Sie neigte sich immer tiefer auf ihren Schoß, und ich konnte gar nicht begreifen, daß sie so still blieb, ob ich auch immerfort auf sie einredete. Ihre Hände lagen schon ganz unter einem Berge von Blumen verborgen. Doch sie rührte die Finger nicht fleißig und geschickt wie sonst, sondern sank immer mehr vornüber und fiel endlich lautlos zur Seite. Anfangs glaubte ich, es sei auf einen Schrecken abgesehen und warf von weitem meine Blumen auf ihr Gesicht. Weil aber nichts, selbst nicht Kitzeln und Stoßen, ihre Ruhe stören konnte, kam eine solche Angst über mich, daß ich laut zu weinen begann und davonlief.
Noch ehe ich das Haus erreichen konnte, stieß ich gegen meine Mutter, die, deutlicher durch meine Aufregung als meine Worte, von dem unglücklichen Ereignis unterrichtet, an mir vorüber in den Garten stürmte, um bald, beladen mit der schlanken, welken Last, zurückzukehren und in der Kinderstube zu verschwinden. Ich, der ich nicht begreifen konnte, auf welche Weise meiner Schwester so übel mitgespielt worden war, fürchtete, es möchte irgend jemand einfallen, mich für das Unglück verantwortlich zu machen. Deswegen verkroch ich mich hinter einen Haufen grober Bausteine, die neben Murrs Hütte lagen, suchte mir den dunkelsten Winkel darin aus und fühlte mich geborgen, sowie ich recht von allen Seiten eingezwängt darin saß. Während ich nun, um auch von vorn gegen Eingriffe gesichert zu sein, mich bemühte, einen Stein gegen meine Füße heranzuziehen, kam mir unversehens ein schrecklicher Gedanke. Meine Schwester hatte gezittert, als ich ihr von dem wilden Winde erzählte, vielleicht war sie gar aus Angst darüber umgefallen, und mich allein traf die Schuld an dem Unglück. Gleich darauf hörte ich die Mutter und dann den Vater nach mir rufen; ihre Stimmen irrten im Hause und dann im Hofe umher, kamen gegen den Garten, und je deutlicher ich das schmerzliche Beben in dem Tun hörte, um so furchtbarer erschien mir das Ereignis, das ich angerichtet hatte, und um so fester war ich entschlossen, mich nicht zu melden. Ich zog den Kopf ein, schloß die Augen, und als die Rufe mir gar zu weh taten, stopfte ich die Finger in meine Ohren. So sah ich lange zusammengeschnürt in einer brausenden Nacht. Vielleicht bin ich gar eingeschlafen. Als ich die Augen zu öffnen wagte, war ich entsühnt und dachte, wenn ich jetzt einen Strauß Blumen pflücke und sie meiner Schwester bringe, sei alles wieder gut. Die Blüten, die auf Annas Händen und Gesicht gelegen hatten, wagte ich aus Scheu nicht anzurühren. In großem Bogen ging ich um die Unfallstelle herum und wanderte СКАЧАТЬ