Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Er riß sich rasch von mir los, wie Menschen tun, die empfinden, daß des anderen Seele ein Ahnen auf sie richtet, dessen Aussprechen sie verhindern wollen. Ich folgte lächelnd und beugte mich neben ihm hinaus. Er machte mir Platz, so gut es ging, löste aber den Blick seiner Augen nicht von dem Himmel, der in reiner Bläue sich über dem tiefschwarzen Rücken der Feistelberge spannte. Das Licht seiner Steine zuckte und glomm unruhig, als flackere es unter der Wucht eines unhörbaren Sturmes.
»Liese scheint mir von der Hartnäckigkeit besessen zu sein, die schwächlichen Menschen eigen ist.« Mit diesen Worten, die ich möglichst belanglos sprach, nahm ich gegen seinen geheimen Willen die Unterhaltung wieder auf.
»Ja, aber sie hat die Hartnäckigkeit der Güte«, antwortete er nach einer Pause.
»Dann, denke ich, müßte sie aber gerade deinem Wunsche nachkommen und zu Hause ihrer überbürdeten Mutter helfen. Du sagtest doch, sie sei die Älteste einer armen, kinderreichen Familie.
»Nun, sie wird schon gehen«, sagte er nach längerem Schweigen und setzte bald darnach, um die Unfreundlichkeit seiner Worte abzuschwächen, wie mir anfangs schien, aus purer Verlegenheit hinzu: »Es ist ein Glanz, ein Glanz ... da drüben, rundum, die Sterne! ...« und seine Stimme brach wieder im Schweben ab.
Aus tiefer, strömender Hingegebenheit redete nach kurzer Pause seine untergetauchte Seele zu sich: »... und sie kehren sich nicht daran, was ich von ihnen will, und wenn ich mich auch wegwende und trübsinnig auf meinen Schatten stiere, so blühen sie weiter hinter meinem Rücken. Vielleicht sind Ideen über das Leben die tiefsten Verfehlungen am Leben. Warum kann man nicht heute noch wie ein Kind sich genügen lassen an dem Schimmer, den uns das Licht ins Haar flicht? Die Welt ist ja nicht anders geworden. Das glimmt und strahlt noch wie in der Kindheit, und nichts hindert mich im Grunde, den Garten da drunten für das Gärtlein hinter meines Vaters Haus in der Wiesenstraße zu halten.
Komm, setzen wir uns hinein.
Unser kleines Haus war von irgendeinem armen Teufel, den niemand mehr kannte, an einen kurzen, jähen Hang gebaut worden und hielt sich nur mit einem tiefen Felsenkeller in der Erde fest. Mein Vater sagte einst: die alte Budike wird noch einmal ganz herunterrutschen und nimmt uns alle mitsammen mit, und wenn des Dorn-Schusters Haus drüben nicht stände, so spränge sie wohl über die Gasse hinüber und fiele gar hinunter bis auf die Brauergasse zwischen die Steinmauern.
Da lag ich oft bis tief in die Nacht hinein und lauschte, ob das Haus sich aufmache, unversehens mit all den schlafenden Menschen den kühnen Gang zu wagen. Ich hatte einen festen Glauben an die friedliche Sicherheit seiner Mauern, wenn auch die vordere Wand sich schief gegen die Straße stemmte, als wehre sie herzhaft einem verborgenen Wagemut, der irgendwo seinen Sitz hatte. Ja, ich vertraute unserem niedrigen, hochgegiebelten Holzhause mit seinen verträumten Fenstern ganz. Und wenn es ja einmal anderen Sinnes werden sollte, so konnte nur der Wind schuld sein, von dem ich damals glaubte, er niste wie die Vögel in den Bäumen unseres Gartens, weil er auch so zu fliegen verstand wie sie und noch viel mehr. Am Tage war er unsichtbar; in der Nacht aber, wenn ich so lag und horchte, nahm ich wahr, wie er in den Bäumen aufwachte, die davon erschraken und erst hohe, klagende Töne ausstießen. Allein niemals kehrte er sich an ihre Angst, sondern wurde stark und stärker, daß endlich alle Bäume ganz laut zu schreien begannen, am lautesten der hohe Birnbaum am Pförtchen, an dessen Stamm die Hundehütte für unsern Murr stand. Selbst der Haselstrauch hinten an Sebalds hohem Bretterzaun ließ es sich nicht gefallen, und ich hörte ihn ärgerlich wispern, wenn die großen Bäume ein wenig still waren, um Atem zu schöpfen. Der Wind kehrte sich nicht an die Starken und die Schwachen; er schlug nur immer auf sie ein in schweren Stößen, bis er sich endlich aus ihren Kronen losgemacht hatte und in langem Brausen über unser Haus flog. Das sollte immer mitfliegen. Doch es mochte nicht, denn es wußte, wir alle schliefen in ihm und durften nicht gestört werden. Ob der Wind es auch stieß, so viel er konnte, daß es vor Angst bebte und mit seinen Fenstern klirrte, es wich aber doch nicht von der Stelle, unser braves Haus, sondern wehrte sich, so gut es ging, heulte mit den kurzen Essen, schrie kreischend mit seiner Wetterfahne und knirschte vor Wut mit den Wänden bis tief in die Erde hinein. Ein paarmal bog ich mich aus dem Bett und guckte hinaus in die Nacht. Da stand der Himmel strahlend blau, die Sterne flimmerten und flirrten scharf und grell, und dann und wann sah ich des Windes schwarze Wolkenflügel eilend darüber hinjagen, daß selbst die Sterne ihre schönen glänzenden Augen vor Entsetzen schlossen. Dann kroch ich schnell und ängstlich zurück und wühlte das Gesicht in die Kissen, weil ich dachte, nun würde das Haus doch nicht länger widerstehen, sondern gleich mit uns allen in die Brauergasse hinunterstürzen zwischen die Steinmauern. Ich schloß die Augen und fühlte schon bald, wie ich flog, wiegend und schwang immer weiter hinaus und hinauf, an den Sternen vorbei, bis in den Himmel hinein. Unser Murr lief hinter mir her, und ich hörte ihn immer schwächer tief unter mir bellen. Manchmal folgte auch meine Mutter mir Davongetragenem. Sie breitete die Arme nach mir aus und rief mit hoher, klagender Stimme. Aber es gelang mir zum größten Schmerze nicht, mich von der Gewalt, die mich hinauswiegte, loszumachen. Und oft war am Morgen mein Kissen noch naß von den Tränen, die ich im Traume vergossen hatte. Dann blieb ich immer solange liegen, bis die Nässe verschwunden war, denn um alles in der Welt hätte ich nicht über mein Traumerlebnis und meine geheimen Besorgnisse reden mögen. Aber mich, nach der niedrigen Decke unseres Kinderstübchens schauend, ruhte ich noch halb im Banne der seltsamen Nachtgesichte, lauschte ihren Tönen in mir nach und genoß mit geschlossenen Äugen den bunten Wandel ihrer Vorüberflucht oder sah meinen beiden Geschwistern, Peter und Resa, zu, die sich unter großem Geräusch zum Schulgange rüsteten. Während die beiden nach ihren vielverstreuten Kleidungsstücken umhertobten und bei den vielfältigen Zusammenstößen ein jedes in seiner Weise explodierten, Peter in etwas ingrimmiger Tätlichkeit. Resa in tränenvollen Beteuerungen ihrer Unschuld, die endlich in Injurien übergingen, fühlte ich kleiner, traumumfangener Nesthaken mich weit von ihnen entfernt und war nicht imstande zu begreifen, wie meine älteste Schwester so lieb zu den beiden Unholden sein konnte. Sie war schlank und blaß, ihr Gang fast lautlos und so ruhig, baß der überdicke, weißblonde Zopf auf ihrem Rücken sich kaum rührte. Nie verließ sie ein singender Friede, nie ihre immer stummfrohe Ruhe. Mit unbestechlicher Konsequenz versah sie die ihr übertragene mütterliche Hilfe und verstand es, dem unerträglichen Wortschwall Resas sowohl wie den tätlichen Insulten Peters endlich einen Dämpfer aufzusetzen, ohne mit dem unendlich gefürchteten elterlichen Eingreifen zu drohen. Einst aber, als Resa von einem unvermuteten Stoß ihres Erbfeindes Peter zwischen zwei Stühlen so zur Erde geschlagen war, daß ihre Stirn blutete, wandte sie sich, noch blasser als sonst, nach der Tür, um wirklich den Vater herbeizurufen. Da entfuhr meinem Bruder ein schleckvoller Fluch. Als Anna dies schlimme Wort gehört hatte, stand sie einen Augenblick wie gelähmt, ihre blauen Augen kummervoll auf den Missetäter geheftet, der immer tiefer in den Winkel zwischen Bett und Wand kroch. Dann sank sie auf einen Stuhl, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und stotterte unter Schluchzen: Ach, Peter, jetzt wird dich Gott strafen. In diesem Moment sah ich von meinem Spiel auf und bemerkte, daß mein Bruder kohlschwarzes Haar und unbewegliche, dunkelglühende Äugen habe. Weil ich das früher an ihm noch nicht bemerkt hatte, glaubte ich, das sei die Strafe für seine Todsünde, und hielt mich seit dieser Zeit aus verborgener Furcht von ihm noch ferner. Auch an dem Morgen, der mir eben in der Seele steht, nach einer Nacht, in der ich vom Traum wieder durch rätselvolle Weiten geführt worden war, erhob ich mein Äuge aus kindlich wichtigem Sinnen und sah, wie meine Geschwister die Tür stürmten. Resa war, ihre Tasche schwenkend, schon hinaus, Peter beugte sich noch einmal in die Stube herein und blies aus Leibeskräften auf mich zu, als habe er die Absicht, mich mit seinem Atem von der Bettkante herunterzuwehen. Seine Augen waren in der Anstrengung noch größer und starrer; sein voller, aufgetriebener Mund, die ungewöhnliche Rundung seiner Wangen, die leidenschaftliche Verzerrung des ganzen Gesichts flößten mir kleinem Menschen doch so viel Furcht ein, daß ich vorsichtshalber unter meine Decke СКАЧАТЬ