Название: Das verlassene Haus
Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Ein Fall für Gamache
isbn: 9783311701262
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»Lasst uns gehen«, sagte Clara und wandte sich zur Tür.
»Das können wir nicht«, sagte Jeanne.
»Warum nicht?«, fragte Monsieur Béliveau. »Ich finde, Clara hat recht. Ich habe auch kein gutes Gefühl bei der Sache.«
»Wartet«, sagte Gilles. Der große Mann stand mitten im Raum, die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt, sodass sein buschiger roter Bart auf die Wand deutete. »Es ist nur ein Haus«, sagte er schließlich mit ruhiger, eindringlicher Stimme. »Es braucht unsere Hilfe.«
»Das ist doch Unsinn«, sagte Hazel und wollte Sophies Hand nehmen, aber das Mädchen schüttelte sie ab. »Ist es nur ein Haus, oder braucht es unsere Hilfe? Es geht nur eins von beidem. Mein Haus hat mich noch nie um Hilfe gebeten.«
»Vielleicht hast du es nur nicht gehört«, meinte Gilles.
»Ich will bleiben«, sagte Sophie. »Und du, Madeleine?«
»Können wir uns setzen?«
»Leg dich doch hin«, sagte Gabri und ließ seine Taschenlampe über das Bett wandern.
»Nein danke, lieber Gabri. Noch ist es nicht so weit.« Madeleine lächelte, und der Bann war gebrochen. Ohne weitere Diskussion machten sie sich an die Arbeit. Sie trugen Stühle im Schlafzimmer zusammen und stellten sie im Kreis auf.
Jeanne legte die Tasche, die sie mitgebracht hatte, auf einen der Stühle und fing an, sie auszupacken, während Clara und Myrna sich umsahen. Sie betrachteten den Kamin mit dem dunklen Mahagonisims und dem ernst dreinblickenden viktorianischen Porträt darüber. Im Bücherregal standen lauter ledergebundene Bände aus einer Zeit, als die Leute wirklich noch gelesen hatten und die Bücher nicht einfach meterweise von einem Innenarchitekten anschaffen ließen.
»Ich frage mich, wo der Vogel ist«, sagte Clara und griff nach einem Nippesstück auf der Kommode.
»Der Arme wird sich vor uns verstecken. Wahrscheinlich ist er zu Tode erschrocken«, sagte Myrna und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in eine dunkle Ecke. Kein Vogel.
»Es ist wie in einem Museum.« Gabri gesellte sich zu ihnen und nahm einen silbernen Spiegel in die Hand.
»Eher wie in einem Mausoleum«, sagte Hazel. Als sie sich wieder umdrehten, stellten sie erstaunt fest, dass der Raum jetzt von Kerzen erleuchtet war. Mindestens zwanzig davon mussten über das Schlafzimmer verteilt sein. Sie brannten zwar, aber aus irgendeinem Grund schien das Licht, das bei Clara und Peter so warm und anheimelnd wirkte, sich in diesem Raum selbst zu verhöhnen. Die Dunkelheit wirkte noch dunkler, und die flackernden Flammen warfen grotesk verzerrte Schatten auf die gemusterte Tapete. Clara hätte am liebsten alle Kerzen gelöscht, um die Dämonen, die sie mit ihren eigenen Schatten erzeugten, zu bezwingen. Selbst ihr Schatten, der ihr so vertraut war, wirkte verzerrt und unheimlich.
Als Clara schließlich in dem Kreis saß, mit dem Rücken zur offenen Tür, bemerkte sie, dass vier Kerzen nicht angezündet waren. Nachdem jeder einen Stuhl gewählt hatte, hatte Jeanne in einen kleinen Beutel gegriffen, nun ging sie um die Stühle herum und verstreute dabei etwas.
»Jetzt ist der Kreis geweiht«, sagte sie, das Gesicht abwechselnd im Schatten und im Licht, die Augen tief in ihre Höhlen gesunken, sodass sie fast wie schwarze Löcher aussahen. »Das Salz segnet den Kreis und schützt alle, die sich darin befinden.«
Clara spürte, wie Myrna ihre Hand ergriff. Das einzige Geräusch war das leise Prasseln des Salzes auf dem Boden. Claras Kopf dröhnte, so angestrengt lauschte sie auf die kleinste Regung. Der Gedanke, dass ein Vogel mit ausgestreckten Krallen und aufgerissenem Schnabel kreischend aus der Dunkelheit hervorstürzen könnte, trieb ihr den Angstschweiß auf die Stirn. In ihrem Nacken kribbelte es.
Als Jeanne ein Streichholz anriss, fuhr Clara vor Schreck zusammen.
»Wir laden die Weisheit der Welt in unseren geweihten Kreis ein, um uns zu schützen und zu führen und über unser Werk in dieser Nacht zu wachen, während wir dieses Haus von allen Geistern, die es besetzt halten, befreien. Von dem Bösen, das sich hier eingenistet hat. Von all der Verruchtheit, der Angst, dem Schrecken, dem Hass, die sich mit diesem Haus verbunden haben. Mit diesem Zimmer hier.«
»Hat der Spaß schon angefangen?«, flüsterte Gabri.
Jeanne zündete die letzten vier Kerzen an und kehrte zu ihrem Platz zurück, wo sie sich ruhig hinsetzte. Sie war die Einzige, die ruhig war. Clara spürte, wie ihr Herz pochte und sie stoßweise atmete. Neben ihr rutschte Myrna hin und her, als würden Ameisen über sie krabbeln. Alle waren bleich und starrten vor sich hin. Der Kreis mochte ja geweiht sein, dachte Clara, verängstigt war er jedenfalls bestimmt. Sie sah sich um und fragte sich, wer aus der Gruppe als Erster daran glauben müsste, wenn das ein Film wäre und sie und Peter ihn sich auf dem Sofa aneinandergekuschelt ansähen.
Der ängstliche, hagere Monsieur Béliveau, immer noch in Trauer?
Oder der große, kräftige Gilles Sandon, in den Wäldern mehr daheim als in seinem viktorianischen Haus?
Hazel, so freundlich und großzügig. Oder war sie schwach? Vielleicht aber auch ihre Tochter, die unersättliche Sophie?
Nein. Claras Blick landete bei Odile. Sie wäre die Erste, die verloren war. Arme, kleine Odile. Schon jetzt ganz verloren. Diejenige, die am bedürftigsten war und die am wenigsten vermisst würde. Sie war geradezu genetisch dazu bestimmt, als Erste gefressen zu werden. Clara hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so grausame Gedanken hatte. Sie gab dem Haus die Schuld. Diesem Haus, das alles Gute fernhielt und das Böse belohnte.
»Jetzt rufen wir die Toten«, sagte Jeanne, und Clara, überzeugt, sich nicht noch mehr fürchten zu können, fürchtete sich noch mehr.
»Wir wissen, dass ihr hier seid.« Jeannes Stimme veränderte sich und wurde kräftiger. »Sie kommen. Kommen aus dem Keller, kommen vom Dachboden. Sie sind jetzt alle um uns herum. Sie kommen den Flur herunter.«
Clara war sicher, Schritte zu hören. Schlurfende, hinkende Schritte auf dem Teppich draußen. Sie konnte die Mumie sehen, die Arme ausgestreckt, eingewickelt in schmutzige, halb verfaulte Verbände, wie sie auf sie zuschlurfte, durch den verdammten dunklen Flur. Warum hatten sie die Tür offen gelassen?
»Kommt!«, knurrte Jeanne. »Jetzt!« Sie klatschte in die Hände.
Im Zimmer war ein Schrei zu hören, innerhalb des geweihten Kreises. Dann noch einer.
Und ein Rums.
Der Tod war gekommen.
9
Chief Inspector Armand Gamache warf über den Rand der Zeitung einen verstohlenen Blick auf seine kleine Enkelin. Sie saß am Ufer des Beaver Lake im Matsch und steckte ihren schmutzigen großen Zeh in den Mund. Ihr Gesicht war mit Matsch oder Schokolade oder etwas ganz anderem, was er sich lieber gar nicht erst vorstellen wollte, beschmiert.
Es war Ostermontag, und sämtliche Einwohner Montréals schienen dieselbe Idee gehabt zu haben. Einen Morgenspaziergang um den Mont Royal zum Beaver Lake auf dem Gipfel. Gamache und Reine-Marie sonnten sich auf einer der Bänke und sahen zu, wie ihr Sohn und seine СКАЧАТЬ