Название: Das verlassene Haus
Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Ein Fall für Gamache
isbn: 9783311701262
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Es war ein wunderbarer Tag.
Nach einigen Minuten ließ Reine-Marie die Zeitung sinken. Sie sah beunruhigt aus. Fast verängstigt.
»Was ist los?« Gamache legte seine große Hand auf ihren Unterarm, suchte ihren Blick.
»Hast du die Zeitung gelesen?«
»Bislang nur das Feuilleton, warum?«
»Ist es möglich, dass man zu Tode erschrickt?«
»Warum fragst du?«
»Offenbar ist das jemand. Zu Tode erschrocken.«
»Das ist ja schrecklich.«
»In Three Pines.« Reine-Marie sah ihm prüfend ins Gesicht. »Im alten Hadley-Haus.«
Armand Gamache erbleichte.
10
»Kommen Sie rein, Armand. Frohe Ostern!«
Superintendent Brébeuf schüttelte Gamache die Hand und bat ihn in sein Büro.
»Et vous, mon ami.« Gamache lächelte. »Frohe Ostern.«
Sein erstes Erstaunen über den Bericht, den ihm Reine-Marie gezeigt hatte, hatte sich gelegt. Er hatte ihn gelesen und gerade als er damit fertig gewesen war, hatte sein Handy geklingelt.
Es war sein Freund und Vorgesetzter bei der Sûreté du Québec, Michel Brébeuf.
»Ein neuer Fall«, hatte Brébeuf gesagt. »Ich weiß, dass Daniel mit seiner Familie zu Besuch ist, tut mir leid. Könnten wir uns trotzdem kurz im Büro sehen?«
Gamache wusste, es war reine Höflichkeit, dass sein Vorgesetzter fragte. Er hätte ihn auch einfach herzitieren können. Aber andererseits waren sie von früher Kindheit an miteinander befreundet und zur gleichen Zeit zur Sûreté gegangen. Sie hatten sich sogar zusammen um den Posten des Superintendent beworben. Brébeuf hatte ihn bekommen, aber das hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan.
»Sie fliegen heute Abend nach Paris zurück. Kein Problem. Wir haben die Zeit mit ihnen genossen, und wie immer war sie viel zu schnell vorbei. Ich bin gleich da.«
Er hatte sich von seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und Florence verabschiedet.
»Ich rufe dich später an«, sagte er zu Reine-Marie und gab ihr einen Kuss. Sie winkte und sah ihm nach, wie er mit zielstrebigen Schritten zum Parkplatz ging, der hinter einer Reihe von Bäumen verborgen war. Sie sah ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwand. Und dann sah sie ihm immer noch nach.
»Hast du die Zeitung gelesen?«, fragte Brébeuf, zum Du wechselnd, wie immer, wenn sie allein waren, und ließ sich auf dem Drehsessel hinter seinem Schreibtisch nieder.
»Gejagt trifft es eher als gelesen.« Er erinnerte sich an seinen Versuch, die Zeitung mit seinem großen Fußabdruck quer darüber zu lesen. »Du sprichst nicht etwa von dem Fall in Three Pines?«
»Du hast sie also gelesen.«
»Reine-Marie hat mich darauf aufmerksam gemacht. Aber es hieß, es wäre ein natürlicher Tod. Makaber, aber natürlich. Wurde sie tatsächlich zu Tode erschreckt?«
»Das sagen zumindest die Ärzte im Krankenhaus von Cowansville. Herzversagen. Aber …«
»Sprich ruhig weiter.«
»Du musst es dir selbst ansehen, wie ich gehört habe, machte sie den Eindruck, als …« Brébeuf hielt inne, fast schien es ihm peinlich zu sein, es auszusprechen, »als hätte sie etwas gesehen.«
»In der Zeitung stand, sie hätte an einer Séance im alten Hadley-Haus teilgenommen.«
»Eine Séance«, Brébeuf schnaubte. »Unsinn. Na gut, wenn Jugendliche so etwas machen, aber Erwachsene? Ich begreife nicht, warum jemand seine Zeit mit einem solchen Unsinn verschwenden sollte.«
Gamache fragte sich, warum der Superintendent an seinem freien Tag ins Büro gekommen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Brébeuf schon einmal über einen Fall mit ihm gesprochen hätte, noch bevor feststand, dass es sich überhaupt um einen solchen handelte.
Warum also dieses Mal?
»Der Arzt kam erst heute Morgen auf die Idee, das Blut ins Labor zu schicken. Das hier kam zurück.«
Brébeuf reichte ihm ein Blatt Papier. Gamache setzte seine Lesebrille auf. Er hatte schon Hunderte solcher Berichte gelesen und wusste genau, wonach er suchen musste. Nach dem Ergebnis der toxikologischen Untersuchung nämlich.
Nach einer Minute ließ er das Blatt sinken und sah Brébeuf über seinen Brillenrand hinweg an.
»Ephedra.«
»C’est ça.«
»Aber muss es deshalb Mord sein?«, sagte Gamache. »Nehmen manche Leute nicht von sich aus Ephedra?«
»Ephedra beziehungsweise der Wirkstoff Ephedrin ist verboten«, sagte Brébeuf.
»Richtig, ja«, sagte Gamache geistesabwesend. Er überflog den Bericht ein zweites Mal. Gleich darauf sagte er: »Das ist interessant. Hör dir das an: Die Verstorbene ist 1,67 Meter groß und wiegt 61,1 Kilogramm«, las er vor. »Man sollte nicht denken, dass sie ein Diätmittel brauchte.« Er nahm seine Brille ab und klappte sie zusammen.
»Die wenigsten brauchen welche«, sagte Brébeuf. »Alles nur Einbildung.«
»Ich frage mich, was sie vor ein paar Monaten gewogen hat«, sagte Gamache. »Vielleicht ist sie ja damit auf 61 Kilogramm gekommen.« Er klopfte mit seiner Brille auf den Bericht. »Mithilfe von Ephedra.«
»Vielleicht«, sagte Brébeuf. »Es ist deine Aufgabe, das herauszufinden.«
»Mord oder unglücklicher Zufall?« Gamache wandte sich wieder dem Blatt Papier in seiner Hand zu, er fragte sich, was es sonst noch enthüllen würde. Allerdings wusste der Chief Inspector, dass auf Papier nur selten die Antworten auf seine Fragen zu finden waren. War es Mord? Wer war der Mörder? Warum hatte der Mörder diese Frau so sehr gehasst oder gefürchtet, dass er sie umbringen musste? Warum? Warum? Immer das Warum vor dem Wer.
Nein, die Antworten fanden sich in etwas, das aus Fleisch und Blut war, nicht in einem Buch und nicht in einem Bericht. Oft nicht einmal in etwas Greifbarem, sondern in irgendetwas, das man nicht fassen und festhalten konnte. Die Antworten auf seine Fragen fanden sich in der dunklen Vergangenheit und den Gefühlen, die dort verborgen waren.
Das Blatt Papier in seiner Hand mochte die Fakten aufzeigen, aber nicht die Wahrheit. Um die zu enthüllen, musste er nach Three Pines. Um die zu enthüllen, musste er ein weiteres Mal in das alte Hadley-Haus.
»Wer soll in dein Team?« Die Frage СКАЧАТЬ